Bewusstsein - Unbewusstes
Vom
Lehren der Selbsterkenntnis
In Worten wollen wir von außen
hören,
was wir in unserem Inneren
schon immer wussten.
Doch niemand kann uns etwas lehren,
das nicht schon in uns
schlummert.
Ein guter Lehrer wirkt nicht so sehr
Ein guter Lehrer wirkt nicht so sehr
durch sein Wissen und seine Rede,
sondern durch seinen Glauben
und seine Liebe.
Der wirklich weise Lehrer sagt nicht,
Der wirklich weise Lehrer sagt nicht,
er habe die Wahrheit gefunden,
vielmehr führt er uns an die
Quellen
in der Tiefe unseres eigenen
Geistes heran.
An seinem Vorbild lernen wir,
die unbekannten Schätze unserer
wandernden Seele
nicht mit einer Waage zu wiegen
oder
mit dem Maßband auszumessen.
Denn wir sind wie ein Meer,
das keine Grenzen und kein Maß kennt.
(frei nach Khalil Gibran:
„Der Prophet“)
Anliegen, Kernaussagen und Aufbau des Buches
In dem Buch geht es um das menschliche
Bewusstsein und um die nichtbewussten Prozesse, die ihm zugrunde liegen.
Es geht außerdem um die unbewussten Mechanismen, welche die Kohärenz des Bewusstseins und des Selbsterlebens sicherstellen. Ich werde
versuchen, wichtige Aspekte dessen, was wir heute über diese Themen wissen,
verständlich zu machen. Wenn wir verstehen, was Bewusstsein ist und vor allem
auch was es nicht ist, verstehen wir vielleicht auch besser, was unser
Menschsein wesentlich ausmacht. Wir werden uns auch mit der Frage beschäftigen,
welche Konsequenzen aus diesen Einsichten für unsere jeweilige Lebensgestaltung
und für grundlegende Entscheidungsfindungen zu ziehen sind.
Ich widme mich dem Thema aus meiner Perspektive
als Arzt und Psychotherapeut. Ich muss und will verfügbares Wissen zur
Anwendung bringen, um Leiden zu lindern, Menschen zu
entängstigen, zu ermutigen und zu befähigen, ihr Leben zu bewältigen.
Anders als etwa ein Ingenieur, der exakt berechnen kann, mit welcher
Konstruktion die gewünschte Tragfähigkeit einer Brücke mit größter Sicherheit zu erreichen ist, kann ich in vielen
Einzelfällen nie ganz sicher sein, wirklich das Richtige zu tun. Vieles von
dem, was ich als Arzt und Psychotherapeut tue oder sage, beruht auf mehr oder
weniger geprüften oder prüfbaren Hypothesen und Deutungen. Wer in der Verantwortung der heilberuflichen Praxis steht,
der weiß um das oft unausweichliche Dilemma, ausgestattet mit nur begrenztem
oder unsicherem Wissen lebensbestimmende und möglicherweise falsche
Entscheidungen für seine oder gemeinsam mit seinen Patienten treffen zu müssen.
Umso mehr stehen wir als Ärzte und Therapeuten – und das gilt für jeden anderen
auch, der Verantwortung zu tragen bereit ist – in der Pflicht, unser Denken und
Tun empirisch so solide wie irgend möglich zu fundieren.
So liegt es nahe, die sich ständig vermehrende
Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse aus verschiedenen Forschungszweigen, die
zu unserem aktuellen Wissen über Bewusstsein, Nichtbewusstes und Unbewusstes
beitragen, auf ihre Anwendbarkeit in der Psychotherapie-
und Lebenspraxis hin zu untersuchen. In diesem Buch werde ich mich vor allem mit
den Beiträgen der Hirnforschung, der
Kognitionswissenschaften und der zeitgenössischen Philosophie
auseinandersetzen. Die Kognitionswissenschaften schließen die Neurobiologie,
Neurophysiologie, Neuropathologie, die empirische Psychologie, Anthropologie, Linguistik und Informatik (inklusive
der Erforschung von künstlicher Intelligenz) ein. Die
zeitgenössische Philosophie setzt sich mit den Ergebnissen der empirischen
Forschung (einschließlich der Erkenntnisse der Quantenphysik)
auseinander und stellt Querverbindungen zwischen den Einzeldisziplinen her. Sie
entwirft Metatheorien, die das Forschungswissen der einzelnen Disziplinen zu
integrieren suchen. Sie gewichtet, würdigt und diskutiert das empirische Wissen
aus einer übergeordneten Perspektive und zeigt mögliche epistemische, ethische
und pragmatische Konsequenzen aus diesem Wissen auf. Sie macht zudem Vorschläge
für zukünftige Forschungsprojekte.
Es ist völlig unmöglich, das ganze angesammelte
Wissen über Bewusstsein und Unbewusstes auch nur annähernd vollständig zu
erfassen, geschweige denn umfassend darzustellen. Würde man es trotzdem
versuchen, würde ein solches Werk viele seitenstarke Bände füllen und wäre
schon am Tag seiner Veröffentlichung überholt. Der größte Nachteil eines
enzyklopädischen Werkes aber wäre, dass der Leser infolge der Wissensüberflutung
sprichwörtlich ertrinken würde oder – um ein anderes Bild zu bemühen – „vor
lauter Bäumen keinen Wald mehr sehen“ könnte. Die Wissensfülle wäre im Hinblick
auf die von mir intendierte Anwendbarkeit völlig unbrauchbar.
Ich benötige folglich, um ein handliches Buch zu
verfassen, ein brauchbares Kriterium, das mir hilft, die unvermeidliche Exformation[1], das heißt das Aussondern von entbehrlicher Information,
zu bewerkstelligen. Als Filter soll die Frage dienen, was von der Flut des
heute verfügbaren Wissens über Bewusstsein und Unbewusstes in der
psychotherapeutischen Praxis und im Lebensalltag wirklich nützlich ist. An
welchen konkreten, zum Beispiel psychotherapeutischen oder lebenspraktischen
Problemstellungen können wir dieses Wissen auf seine Brauchbarkeit hin testen?
Ich habe eine Reihe von typischen Fragen aus der Psychotherapie-
und allgemeinen Lebenspraxis zusammengestellt, die wir gewöhnlich mit unbewussten
Prozessen und/oder mit Bewusstseinstätigkeit in Zusammenhang bringen und die
uns vielleicht als Prüfstein dienen können:
- Warum gelingt es uns als Einzelne oder als Gemeinschaft trotz großer Anstrengungen und guten Willens nicht, bestimmte partnerschaftliche, familiäre, berufliche oder politische Probleme aufzulösen?
- Warum sind wir in bestimmten Situationen ambivalent hin- und hergerissen und haben so große Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen?
- Warum verrennen wir uns in Partnerschaften, im Familien- oder Berufsleben wiederholt und ungewollt in Problemsituationen, in die andere Menschen möglicherweise nicht oder nicht in dem gleichen Ausmaß geraten?[2]
- Wie treffen wir schwierige Entscheidungen?
- Wie können wir mit scheinbar ausweglosen Situationen fertigwerden?
- Können wir zwischen richtig und falsch unterscheiden und, wenn ja, wie?
- Wie hängt unsere körperliche und seelische Gesundheit mit Bewusstsein und Unbewusstem zusammen?
- Wie können wir uns im Umgang mit unserer Gesundheit intelligenter verhalten?
- Wie können wir uns gesünder, vitaler und selbstsicherer fühlen?
- Welche Ursachen und welche Funktion haben Ängste, depressive Verstimmungen, psychosomatische Beschwerden, Süchte und andere seelische Störungen?
- Wie können wir unsere schädlichen Affekte und Impulse beherrschen?
- Wie können wir nachhaltig mehr Freude in unser Leben und vielleicht auch in das Leben anderer Menschen bringen?
- Wie können wir uns in sozialen Kontexten intelligenter verhalten?
- Welche nichtbewussten Faktoren bestimmen möglicherweise das Verhalten von Menschen, die für uns wichtig sind? Wie können wir diese Faktoren verstehen und dieses Wissen nutzen?
- Wie können wir mit Verlusten und dem Problem des Todes fertigwerden?
- Worin liegt der Sinn unseres Lebens?
Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, mögen
kritisch prüfen, inwieweit das Wissen und die Hypothesen über Bewusstsein und nichtbewusste Prozesse, die ich Ihnen vorstellen werde, wirklich dazu beitragen können, die
vorangegangenen Fragen zu beantworten. Können wir als Einzelne, als Familie
oder als Gesellschaft – ausgestattet mit diesem Wissen – Problemstellungen
effizienter und erfolgreicher lösen und vielleicht gesünder, friedlicher und
glücklicher leben als ohne ein solches Wissen?
Das Thema, dem wir uns hier widmen, greift weit
über die Not kranker Menschen hinaus in die Grundfragestellungen einer jeden
menschlichen Existenz hinein. Wenn wir uns mit dem Phänomen[3]
des Bewusstseins und mit dem weiten Feld nicht bewusster Prozesse beschäftigen, begegnen wir
zwangsläufig jenen drängenden Fragen, die sich in der einen oder anderen Form
jeder zur Selbstreflexion befähigte Mensch irgendwann in
seinem Leben stellt, zum Beispiel:
- Wer bin ich?
- Was soll/will ich grundsätzlich mit meinem Leben anfangen?
- Welche Orientierung, welche Werte soll/will ich meinem Leben geben?
- Was ist wirklich? Was ist wahr?
- Was können wir erkennen?
- Wo sind die Grenzen unserer Erkenntnis?
- Bestimme ich selbst, was ich denke, was ich will und was ich tue?
- Haben wir Menschen grundsätzlich einen freien Willen (und damit Verantwortung), oder sind wir vollständig durch unsere Gene und Umweltbedingungen determiniert?
- Kann ich mich wirklich ändern? Kann ich andere verändern?
- Wie können wir uns als Gemeinschaft (zum Beispiel Familie, Interessengruppe, Partei oder Nation) im Umgang mit anderen Gemeinschaften und mit globalen Herausforderungen intelligenter verhalten?
- Welche Bedeutung und welchen Wert können Glauben und Religion für uns heutige Menschen haben?
Mit den aufgelisteten Fragen befinden wir uns
mitten in einer grundlegenden Betrachtung darüber, in welchen umfassenderen
soziokulturellen oder gar spirituellen Gesamtzusammenhang wir als Individuen eingebunden sind und welche Konsequenzen sich möglicherweise
aus einer solchen erweiterten Perspektive für unseren persönlichen
Lebensentwurf ergeben. Mit Hilfe meiner lebenspraxisbezogenen Fragestellung
hoffe ich, auch einen über meine eigene Berufsgruppe hinausgehenden Leserkreis für
das Thema „Bewusstsein und Unbewusstes“ zu interessieren. Um das Buch
lebensnah, prägnant und gut lesbar zu gestalten, verzichte ich auf eine
ausführliche theoretische Einführung und stelle Ihnen stattdessen meine Kernaussagen direkt vor:
In
Anlehnung an Gerald Edelman und
Giulio Tononi[4] unterscheide ich zwischen einem
primären, biologischen Bewusstsein, das auch viele Tiere im Rahmen der
Evolution entwickelt haben, und einem höheren, kulturvermittelten
und damit spezifisch menschlichen Bewusstsein, das sich weit über die
angeborenen biologischen Bewusstseinsfunktionen erhebt und sich vor allem in
Subjektivität (phänomenalem Welt- und Selbsterleben[5]) sowie in Schuldbewusstsein und in einem Anspruch, einen freien Willen zu haben, zeigt. Ich hoffe, mit dieser
einfachen Unterscheidung einen Teil der verwirrenden philosophischen Debatte über
den Bewusstseinsbegriff zu überwinden.
So
wie die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist, obwohl wir es so erleben, so
ist auch unser menschliches
Bewusstsein nicht
in unseren Köpfen lokalisiert[6], obwohl wir es so erleben.
Menschliches Bewusstsein, das jeder Einzelne von uns als „mein Bewusstsein“
erlebt, ist keine rein individuelle Leistung und auch nicht etwas, was „mir
gehört“, wenngleich wir es so erleben.[7]
Menschliches Bewusstsein resultiert vielmehr aus der kulturbasierten Interaktion vieler Gehirne und innerhalb dieser Gehirne aus dem
Zusammenwirken vieler Nervenzellennetze. Es ist damit ein interpersonales Phänomen,
obwohl es phänomenal individuell
erfahren wird. Es
hat – anders als Nervenzellen (Neurone), Synapsen und elektrische Nervenerregungen – keinen bestimmbaren
physikalischen Ort.[8]
Wenn wir es unbedingt – der Anschaulichkeit wegen – verorten wollen, dann in
einem virtuellen Raum zwischen unseren Gehirnen. Die These von der Nichtlokalität von Bewusstsein ist erst
einmal kontraintuitiv und ruft vielleicht erst einmal spontanen Widerspruch
hervor. Aber sie ist – wie wir noch sehen werden – neurobiologisch, system-,
informations- und quantentheoretisch naheliegend und hat weitgehende
lebenspraktische Konsequenzen.
Menschliches
Bewusstsein ist auf menschliche Gehirne angewiesen[9],
aber es wird nicht von einzelnen Gehirnen erzeugt, so wie die Fülle der
Information des Internets auf lokale Computer mit
bestimmten Hardware-Voraussetzungen und geeigneten Programmen angewiesen ist,
um die verfügbare World-Wide-Web-Information sichtbar und nutzbar zu machen,
ohne dass der einzelne Computer der Erzeuger der auf dem Bildschirm
erscheinenden Benutzerillusionen wäre. Alle Gehirne verarbeiten Information,
aber menschliche Gehirne zeichnen sich im Vergleich zu tierischen Gehirnen
dadurch aus, dass sie eine bestimmte Klasse von Informationen verarbeiten und
speichern können, die ich „Bewusstseinsinformation“ nennen will. Ich nenne
sie so, weil sie geeignet ist, bewusstseinsfähige Gehirne zu verlinken und
dadurch erst die besonderen Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins
hervorzubringen.
Bewusstseinsinformation liegt in symbolischer Form vor; sie umfasst all
das, was Kulturen an Zeichen, sprachlichen Produktionen
und Bedeutungen (zum Beispiel Schriftzeichen, mathematische
Zeichen, Landkarten, Noten, Konventionen, Sitten, Gesetze, Wissenschaften und Religionen) entdeckt, hervorgebracht und
verarbeitet haben. Sie wird auch über gegenständliche Kulturprodukte wie Bauwerke, Fahrzeuge, Werkzeuge, Kunstwerke
und kultische Objekte vermittelt. Bewusstseinsinformation wird sozial angeliefert,
wobei der Informationsfluss und Informationsaustausch sowohl horizontal (zwischen Mensch und Mensch,
zwischen Individuum und Kollektiv oder von Kollektiv zu Kollektiv) als auch
vertikal (geschichtlich, transgenerational von Menschen und Kollektiven in der
Vergangenheit zu Menschen und Kollektiven in
der Gegenwart und von uns Heutigen zu zukünftigen
Generationen) erfolgt. Die Bedeutung der Bewusstseinsinformation erschließt
sich erst aus einem kollektiven und geschichtlichen Kontext heraus.
Theoretisch
verbindet Bewusstseinsinformation alle Einzelgehirne, die je gelebt haben, mit
denen, die heute leben, und jenen, die zukünftig leben werden, zu einem
riesigem sowohl parallel als auch seriell arbeitenden Informationsverarbeitungsnetzwerk.
Irgendwo inmitten dieses gigantischen Informationsverarbeitungssystems befindet sich – wie die Erde im Kosmos – unser
im Gesamtmaßstab winziges und dennoch einzigartiges Gehirn, welches von der
kollektiven Bewusstseinsinformation „durchströmt“ wird, diese
empfangen und decodieren kann und Bewusstseinsinformation transformieren, encodieren und senden kann. Was jeder von uns als „mein
Bewusstsein“ erlebt, ist die jeweils aktuelle Interpretation und Transformation
der kollektiven Bewusstseinsinformation durch unser jeweiliges Individualgehirn,
dessen aktuelle Funktion wiederum von der Verfassung unseres Gesamtorganismus
abhängt.[10]
Jeder von uns ist – wenn auch mit sehr unterschiedlichem Wirkungsgrad – an dem
kollektiven Bewusstseinsprozess – beteiligt.
Unser
menschliches Bewusstsein ist im Gegensatz zum biologischen Bewusstsein soziokulturell
antrainiert („enkulturiert“, wie Merlin Donald sagt). Jedes Lebewesen macht Erfahrungen
mit seiner Umwelt und lernt daraus; Tiere mit höher entwickelten
Nervensystemen, insbesondere die Primaten[11],
machen in ihrem sozialen Umfeld komplexe Lernerfahrungen, die sie zu einem
erstaunlich differenzierten Rollenverhalten befähigen. Aber bei keinem Tier ist eine
Qualität von soziokulturellem Lern- und Persönlichkeitsformungsprozess erkennbar,
der wie beim Menschen zur Ausbildung eines expliziten Selbst und Ich (diese Begriffe müssen unten noch definiert
und voneinander abgegrenzt werden) führt.[12] Das Selbst und das Ich stehen
nach ihrer Ausreifung mit der Welt der Objekte in einer außerordentlich
facettenreichen sensorischen, kognitiven und emotionalen Wechselbeziehung. Kulturelle
Einflüsse (die ich unten noch spezifizieren werde), transformieren die sozialen
Lernerfahrungen, die – wie gesagt – insbesondere auch Tiere mit höher
entwickelten Nervensystemen machen, in Selbstobjekt-Erfahrungen[13], die wahrscheinlich nur
Menschen mit ihrem durch ein besonders hohes Maß an Neuroplastizität[14] ausgezeichneten und
sprachfähigen Gehirn machen können. Dieser menschentypische soziokulturelle
Lernprozess bringt, wenn er glückt, bei jedem Einzelnen ein
konsistentes subjektives Selbsterleben (Identität und Kohärenzgefühl) sowie einen unverwechselbaren
Persönlichkeitsstil hervor.
Die
höheren, typisch menschlichen Bewusstseinsfunktionen, die als wesentliche
Bestandteile Symbolisierung, Subjektivität, Willensfreiheit und Gewissen enthalten, sind – das versuche ich zu belegen
– unserer evolutionsgeschichtlichen Natur in gewisser Weise aufgenötigt. Sie
sind unserer biologischen Herkunft wesensfremd und zugleich das, was uns zu
Menschen macht (und als biologische Gattung so überaus erfolgreich gemacht
hat). Jeder von uns ist durch einen unerbittlichen Enkulturationsprozess (Erziehung, Sozialisation) gegangen, der jedem Einzelnen
eine Ich-Vorstellung, ein phänomenales
Selbsterleben, ein Ich-Ideal und ein Gewissen eingepflanzt hat und sich
dabei unsere natürliche Ausstattung mit libidinösen (nach Lustgewinn und Bemächtigung der Welt strebenden) und sozialen (nach sicherer
Bindung und Anerkennung strebenden) Antrieben und Bedürfnissen zunutze gemacht hat (ich werde
das noch erläutern). Diese kulturell forcierte Implantation von Ich, Selbst, Ich-Ideal und Über-Ich, die während des ganzen
Lebens nicht abreißt, erklärt, warum es eine Grunderfahrung von vielen
(kultivierten) Menschen ist, mit der eigenen Natur (mit Körper, Triebleben, Sterblichkeit) in Konflikt zu stehen und
von dem Rest der Welt (und auch dem, was wir „Gott“ nennen) getrennt zu sein.
Entgegen
der These, dass Bewusstsein ein reines Epiphänomen ohne eigentliche Funktion sei[15], werde ich zu zeigen
versuchen, dass die uns anerzogenen höheren Bewusstseinsfunktionen der
Symbolisierung, Subjektivität, Ich- und Selbsthaftigkeit, Willensfreiheit und des Gewissens zusammen einen hochwirksamen Cocktail bilden,
der uns für das Kollektiv (vor allem der Familie und der Nation) und die
Kultur, denen wir entstammen, so
überaus nützlich macht. Unsere Abhängigkeit von Kollektiv und Kultur bedingt
aber auch, dass wir verführt, missbraucht und zur großen Gefahr für uns selbst
und andere werden können (wofür der Nationalsozialismus ein besonders bedrückendes
Beispiel war und die hemmungslose, ökologisch bedrohliche Ausbeutung unseres
Planeten ein aktuell brisantes Beispiel ist). Wie sollen wir als Einzelne und
als Gemeinschaft mit der Verantwortung, die uns hier zufällt,
umgehen?
Als
Arzt bin ich immer wieder mit sehr kranken Menschen und damit auch mit der drängenden
Frage konfrontiert, wie sich jeder von uns auf das Sterben und den Tod vorbereiten kann. Wie können wir uns im
Hinblick auf das unvermeidliche Ende unseres Lebens entängstigen und den letzten Teil unseres natürlichen
Lebensweges vielleicht sogar aktiv und sinnhaft gestalten? Solange wir an den
Benutzerillusionen unseres phänomenalen Bewusstseins als der eigentlichen Wirklichkeit festhalten und solange sich unser Selbst und unser Ich nicht von der enkulturierten Überschätzung ihrer
eigenen Bedeutung verabschieden können, können wir uns mit unserem
Sterbenmüssen nicht versöhnen.
Religiöse
Menschen haben es da oft leichter. Viele von ihnen machen während des Gebets oder in der Meditation, durch den gemeinsamen
Vollzug von Ritualen, beim Singen, Rezitieren und Hören von Texten, beim Betrachten von Gottesbildern und
Symbolen, auf Pilgerfahrten und an heiligen Orten besondere Erfahrungen. Sie
sind darin geübt, sich für eine Dimension von Seinserfahrung zu öffnen, die
sich nicht in den üblichen Sinnesqualitäten und Verstandeskategorien fassen
lässt. Für sie existiert neben der phänomenalen noch eine andere Wirklichkeit, auf die sie vertrauen und
hoffen können und die vielen von ihnen den Abschied aus den Bindungen in der bekannten Welt erleichtert.
Welche
Konsequenzen ergeben sich für nicht religiöse Menschen, die nach meiner
Erfahrung ja in gleicher Weise wie religiös Gebundene des Trostes und der Erlösung angesichts des unausweichlichen Leidens und Todes bedürfen? Was kann man als Atheist von den Religionen lernen? Was kann insbesondere unser Wissen
über Bewusstsein und Unbewusstes dazu beitragen, dass wir – ob als religiöser
oder nicht religiöser Mensch – besser fertigwerden mit der Notwendigkeit des
Sterbens?
Ich habe das Buch so verfasst, wie ich mir
persönlich ein Buch zu einem wichtigen Thema wünsche: die Kernaussagen gleich
zum Anfang, das Wesentliche in verständlicher Sprache im Haupttext, in verdaubare Portionen unterteilt
(die deutlich voneinander getrennten Absätze, in welche ich den Text gegliedert
habe, enthalten jeweils einzelne, relativ übersichtliche Wissensdarbietungen
oder relativ einfach verständliche Gedankenschritte), am Ende jeden Kapitels eine
Zusammenfassung (die auch vorweg als Einstimmung in das Kapitel genutzt werden
kann) und die praktischen Konsequenzen, die sich aus meiner Sicht aus dem Kapitel
ergeben. Wissenschaftliche Anmerkungen und Quellenangaben finden sich in den
Fußnoten (und nicht erst am Ende des Buches, wohin ich mich erst mühsam durchblättern
müsste). Ergänzend zum Buch gibt es ein Online-Glossar, in dem wichtige
Begriffe erklärt werden. Am Ende des Buches befindet sich ein ausführliches
Sach- und Personenverzeichnis.
Zunächst nehme ich eine genaue Begriffsbestimmung
und eine thematische Eingrenzung des Gegenstands vor. Im ersten Hauptteil
stelle eine ganze Reihe verschiedener Aspekte dar, die in der Medizin,
Psychologie, Hirnforschung,
philosophischen Diskussion und auch in der Alltagssprache mit dem Begriff des
Bewusstseins assoziiert sind und die mir unter praktischen Gesichtspunkten
besonders relevant erscheinen. Dabei versuche ich, mich nicht in den
leidenschaftlichen Streit der Gelehrten über die richtige Definition und
Verwendung der Begriffe „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“ verwickeln zu lassen. Denn
für die praktische Nutzung kommt es meines Erachtens nicht auf eine endgültige
Wahrheitsfindung an (die ohnehin nur eine Illusion wäre). Vielmehr lassen sich die
unterschiedlichen Lehren und Standpunkte, die ich vorstellen werde, als sich
ergänzende wertvolle Betrachtungen des äußerst komplexen Themas würdigen.
Ein ausführlicher Abschnitt ist den höheren
Ich-Leistungen der Metarepräsentation und
Mentalisierung, der Selbstüberprüfung, der langfristigen Planung und
Korrektur von Routinen, der Metakognition, Selbstreflexion und Fähigkeit
zum Perspektivenwechsel, der Willensfreiheit, der Verantwortungs- und Schuldfähigkeit, dem Gewissen, dem Werte- und Sinnempfinden sowie der
Selbsttranszendenz gewidmet. Abschließend
gehe ich auf die praktische, vor allem psychotherapeutische Anwendung des Wissens ein, das
wir über diese besonders hoch entwickelten und dem Menschen vorbehaltenen
Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten besitzen.
Der zweite Band des Buches wird sich mit dem
Unbewussten,
vor allem dem Verdrängungsunbewussten nach psychodynamischen Verständnis, sowie
mit dem Grenzbereich zwischen Bewusstsein und Unbewussten auseinandersetzen. Er wird
auf den Zusammenhang von Bewusstsein und Gehirn eingehen sowie auf die Probleme der Wissenschaften, die sich mit dem
Bewusstsein und dem Unbewussten beschäftigen. Vor allem wird der Versuch zu
unternehmen sein, auf die eingangs gestellten Fragen lebenspraxisbezogene
Antworten zu geben. Wie können wir das in diesem Buch zusammengestellte Wissen
sowohl in der privaten Lebensplanung als auch bei der Bewältigung der
kollektiven Herausforderungen unserer Zeit nutzen? Wenn dieses Wissen
wenigstens im Kern zutrifft, dann leuchtet eine pragmatische Konsequenz auf,
die sich für unsere von der Wohlstands-, Konsum-
und Spaßgesellschaft verwöhnte Ohren vielleicht etwas
„unsexy“ anhört: dass wir nämlich
nicht umhinkommen, den in unserer Kultur allzu
hoch gezüchteten Egozentrismus und
Hedonismus in
Richtung einer umfassenden kollektiven Verantwortungsethik weiterzuentwickeln.[16]
Ich hoffe, es wird
gelingen, die LeserInnen davon zu überzeugen, dass die in diesem Buch propagierte
Verantwortungshaltung in keiner Weise als lustfeindliches Pflichtkorsett zu verstehen
ist, sondern als befreiende Form von Selbstverwirklichung und
als Ausweg aus der Sackgasse des postmodernen Hedonismus und
Individualismus. Wenn unser
menschliches Bewusstsein, also das, was sich insbesondere durch
Symbolisierungsfähigkeit, Subjektivität, Ichhaftigkeit, Willensfreiheit und Gewissen auszeichnet und auf das wir zu Recht stolz
sind, eine unbestreitbare Funktion hat, dann die, uns zu eigenständigem und
zugleich verantwortlichem Handeln gegenüber der Gemeinschaft,
in der wir leben, der Welt als Ganzem und gegenüber den Generationen, die uns
nachfolgen, zu befähigen.
Unsere persönliche Heilung und Glücksfähigkeit,
aber auch die Zukunft unseres Gemeinwesens, ja das Schicksal des Lebens auf
unserem Planeten überhaupt hängen davon ab, ob uns das gelingt, was schon
Alfred Adler vor rund hundert Jahren als
Therapiekonzeption entwarf[17]: die Integration und Transformation unseres egozentrischen
Strebens nach Macht und Geltung in eine Kultur echten Gemeinschaftssinnes (den wir heute im weltweiten Maßstab benötigen). Wenn ich aus den
Besonderheiten menschlichen Bewusstseins auf unsere globale Verantwortlichkeit schließe, dann beziehe ich mich
vor allem auf das, was sich aus dem Wort „Ver-antwort-ung“ unmittelbar ableiten lässt: dass wir Antworten finden und geben, die
unserer bewussten Einsicht in unsere weltumspannende und generationsübergreifende
Vernetztheit und Eingebundenheit gerecht
werden, und dass wir diesen Antworten gemäß auch wirklich handeln.
Trotz der wissenschaftlichen Orientierung des Buches setzt es kein Fachwissen voraus. Es
sollte auch für den interessierten Laien ohne Weiteres verständlich sein. Fachbegriffe
werden im Online-Glossar erklärt. Ich wünsche meinen Leserinnen und Lesern eine
kurzweilige Lektüre und reichlich Anregungen für die eigene Lebenspraxis und
die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit.
Udo Boessmann,
Wiesbaden im April 2013
Worüber
reden wir überhaupt?
Babylonische Begriffsverwirrung
In der Psychotherapie und selbst im Alltag sprechen wir wie
selbstverständlich davon, dass uns etwas bewusst oder unbewusst ist beziehungsweise dass wir etwas bewusst
oder unbewusst tun. Das Wort „Bewusstsein“ erscheint uns so vertraut,
dass wir glauben, intuitiv zu wissen, was es bedeutet. Doch schon ein
kurzer Blick auf die verwirrende Fülle von Varianten und Bedeutungskontexten,
in denen die Begriffe „bewusst“, „unbewusst“, „Bewusstsein“ und „Unbewusstes“
verwendet werden, überzeugt uns schnell davon, dass die Sache alles andere als
klar ist.
Wir kennen adjektivische Varianten wie
bewusstseinsnah, bewusstseinsfähig, vorbewusst, unterbewusst, bewusstlos und
substantivierte Varianten wie Bewusstheit, Unterbewusstsein, Unbewusstheit,
Unbewusstsein. Dazu kommen noch die vielen zusammengesetzten Begriffe:
subjektives Bewusstsein, intersubjektives Bewusstsein, phänomenales Bewusstsein,
introspektives Bewusstsein, retrospektives Bewusstsein, empirisches
Bewusstsein, reines Bewusstsein, transzendentales Bewusstsein, höheres
Bewusstsein, operationales Bewusstsein, konzeptuelles Bewusstsein, minimales
Bewusstsein, reflexives Bewusstsein, Selbstbewusstsein,
Ich-Bewusstsein, Kernbewusstsein, Wachbewusstsein, Zugangsbewusstsein, Einzelbewusstsein, Aktivitätsbewusstsein,
Persönlichkeitsbewusstsein, Alltagsbewusstsein, Aufmerksamkeitsbewusstsein,
Umweltbewusstsein, Gesundheitsbewusstsein, Qualitätsbewusstsein,
Preisbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, Schuldbewusstsein und auch Bewusstseinshorizont,
Bewusstseinsfeld, Bewusstseinsphänomen, Bewusstseinsprozess, Bewusstseinszustand,
Bewusstseinsinhalte, Bewusstseinsstrom, Bewusstseinsschwelle, Bewusstwerdung
usw.
Das Unbewusste begegnet uns in der Literatur
unter anderem als primäres Unbewusstes, organismisches Unbewusstes,
physiologisches Unbewusstes, deskriptives Unbewusstes, kognitives Unbewusstes,
individuelles und kollektives Unbewusstes, hereditäres Unbewusstes,
transzendentalphilosophisches Unbewusstes, absolutes Unbewusstes, dynamisches
Unbewusstes, Verdrängungsunbewusstes, präödipales Unbewusstes, vorsprachliches
Unbewusstes, präreflexives Unbewusstes, symbolisches Unbewusstes, ästhetisches
Unbewusstes, romantisches Unbewusstes, cerebrales Unbewusstes, spiritistisches
Unbewusstes, hereditäres Unbewusstes, surrealistisches Unbewusstes,
genialisches Unbewusstsein, unbewusster Wille, unbewusste Triebregungen, unbewusster Lebensstil, unbewusste Fantasien, unbewusste Vorstellung,
unbewusste Erwartungen, unbewusster Zweck, unbewusstes Ziel, unbewusster Dialog, unbewusster
Konflikt oder unbewusstes Wissen. Wenn wir dann noch Begriffe wie „bewusstloser
Wille“ oder „dispositionelles Unterbewusstes“ in unsere Betrachtung
einbeziehen, ist die Verwirrung komplett.
Der Begriff des „Unbewussten“
wird von vielen Laien und selbst von den meisten Therapeuten, die mit ihm
arbeiten (zum Beispiel Psychoanalytiker, Tiefenpsychologen und
Hypnotherapeuten), erstaunlich unreflektiert verwendet. Für sie steht „das
Unbewusste“ für eine verborgene Macht, die unser Leben, Handeln und Erleben auf
mehr oder weniger geheimnisvolle Weise steuert. Immer dann, wenn wir für das
Verhalten von Menschen keine rationale Erklärung finden, sind wir geneigt, das
Unbewusste verantwortlich zu machen. Das Unbewusste ist quasi ein Platzhalter für
Kräfte in uns und in anderen, die wir nicht kennen.
Seit dem 18. Jahrhundert wurden die
verschiedensten Konstrukte entworfen, welche den Mangel an sicherem Wissen
durch Spekulationen über die Gesetze, denen das Unbewusste angeblich folgt,
ersetzten. Diese Spekulationen und die therapeutischen Techniken zur
Beeinflussung und Nutzung des Unbewussten,
welche auf der Grundlage der verschiedenartigen Konstrukte entworfen wurden,
gilt es vom Standpunkt unserer heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten zu
hinterfragen. Dank der
empirischen Forschung der Neuro- und Kognitionswissenschaften hat „das Unbewusste“[18] seinen mystisch verklärten Status als das große Unbekannte und
Unberechenbare zu einem erheblichen Teil eingebüßt. Die empirische Psychologie
und die Hirnforschung haben inzwischen eine Vielzahl von Prozessen
nachweisen können, die in unserem Organismus automatisiert ablaufen, ohne dass
wir Bewusstsein von ihnen haben. Auch ein Teil der Mechanismen, über welche
diese nicht bewussten Vorgänge unser bewusstes Erleben und Handeln bestimmen,
konnte entschlüsselt werden.
Als das eigentliche Mysterium erweist sich
erstaunlicherweise das, was uns im Alltag so vertraut und
selbstverständlich erscheint: unser Bewusstsein beziehungsweise das, was wir
dafür halten. Lassen Sie uns die Spuren des Begriffes „Bewusstsein“ ein wenig
zurückverfolgen.
Verwendung des Begriffs „Bewusstsein“
Der Begriff
„Bewusstsein“ soll 1719 von dem Philosophen Christian Wolff (1679–1745) als
Übersetzung des lateinischen Begriffs „conscientia“ in die deutschsprachige
Literatur eingeführt worden sein.[19]
Das Verb „conscire“ bedeutet: mit anderen ein gemeinsames Wissen teilen.
Während vor allem das Wissen um soziale Normen sinnvollerweise von möglichst
vielen Menschen geteilt wird, muss unter bestimmten Umständen der
Teilnehmerkreis von gemeinsamen Wissen stark begrenzt sein: So waren zum
Beispiel Cäsar und seine Feldherren „conscii“
(„conscius“ = Mitwisser, Zeuge, Vertrauter, Mitverschworener) ihrer
heimlichen Schlachtpläne. „Conscius
sibi“ bedeutet schließlich, Mitwisser seiner selbst zu sein und sein
intimes Wissen gerade nicht mit anderen zu teilen.
„Conscientia“ hatte also
schon in der Antike eine doppelte Bedeutung: die eines gemeinsamen Wissens von
moralischen Sachverhalten und – in bestimmten Kontexten – auch
die eines inneren privaten Wissens, das die geistigen Operationen des Subjekts
begleitet.[20] Der
lateinische Stammbegriff „conscientia“
findet sich in der englischen Sprache als „conscience“ im Sinne von Gewissen und „consciousness“ im Sinne von
Bewusstsein oder Wissen vom Selbst wieder. Das französische Wort „conscience“ hat – wie das
lateinische „conscientia“ –
eine Doppelbedeutung: Es bedeutet sowohl „Bewusstsein“ als auch „Gewissen“.
Die Vieldeutigkeit
der vom lateinischen „conscientia“ abgeleiteten Begriffe in den romanischen
Sprachen wird an weiteren Beispielen des Französischen offensichtlich: Für
Bewusstsein kann auch das Wort „connaissance“ verwendet werden, was zugleich
die Bedeutung von „Wissen“, „(Er-)Kenntnis“ und „Bekanntschaft“ haben kann. Der
Ausdruck „sans connaissance“ bedeutet „bewusstlos“, aber auch „unwissend“ oder
„sinnlos“. Das Wort „inconscient“ kann sowohl „bewusstlos“ als auch „unbewusst“, aber auch „gewissenlos“ oder
„leichtsinnig“ (englisch „inconscionable“) bedeuten. Auch in anderen
romanischen Sprachen gibt es nur ein gemeinsames Wort für „Gewissen“ und „Bewusstsein“.
Die romanischen Sprachen verfügen zudem über kein eigenes Wort für das „Selbst“. In vielen Sprachen gibt es überhaupt kein
Äquivalent für unseren Bewusstseinsbegriff.
Hirnforscher, Kognitionswissenschaftler
und Philosophen bemühen sich unterdessen, den Begriff „Bewusstsein“ präzise zu
definieren und die Undeutlichkeiten und Vieldeutigkeiten in der Alltagssprache
zu überwinden. Alle Bemühungen um begriffliche Klarheit führen allerdings nicht
zu einer eindeutigen und allgemein verbindlichen Definition im Sinne von
„Bewusstsein ist das und das“. Dazu ist das Phänomen „Bewusstsein“ zu
vielschichtig. Vielmehr beleuchten die verschiedenen Definitionen von
Bewusstsein immer nur unterschiedliche Aspekte des Gesamtphänomens. Die
wichtigsten Definitionen und Unterscheidungen, die verschiedene Autoren
hinsichtlich des Bewusstseinsbegriffs getroffen haben, habe ich im Glossar am
Ende des Buches in Kurzform zusammengestellt.
[1] Das Konzept
und der Begriff „Exformation“ wurde vom dänischen Physiker Tor Nørretranders zur
Bezeichnung von explizit verworfener Information eingeführt. Der Begriff wird uns in diesem
Buch noch ausgiebig beschäftigen.
[2] Dafür befinden
sich andere mitunter in Schwierigkeiten, die uns nicht anfechten.
[3] Das Wort „Phänomen“ leitet sich vom
griechischen „phainesthai“ = „sichtbar werden“ oder „erscheinen“ ab.
[4] G. Edelman und G. Tononi (2000: „A Universe of Consciousness. How
Matter Becomes Imagination“, Basic Books, New York) unterscheiden ein primäres
Bewusstsein und ein Bewusstsein höherer Ordnung. Das primäre Bewusstsein ist die
Fähigkeit, Sinneseindrücke zu
einer „Szene“ zusammenzufassen, und zwar so, dass verschiedene Ereignisse zu
einem raumzeitlichen Muster von Kategorisierungen, zu einer „erinnerten
Gegenwart“ vereint werden. Im Gegensatz dazu gehört
zum Bewusstsein höherer Ordnung ein Konzept des „Ich“, der „Welt“, der „Vergangenheit“ und „Zukunft“ und der Sprache.
[5] Der Begriff des phänomenalen beziehungsweise qualitativen Erlebens spielt
in der philosophischen Bewusstseinsdiskussion eine wichtige Rolle. Gemeint ist
die nicht objektivierbare, subjektive Qualität von Empfindungen, zum Beispiel von Zahnschmerzen, des Duftes
von Basilikum oder der Farbe eines Rapsfeldes, sowie die subjektive Qualität
von emotionalen Zuständen, zum Beispiel das Erlebens von Glück oder Trauer oder
das subjektive Erleben einer Musikdarbietung oder eines Kunstwerkes. Phänomenal heißt
das Erleben, weil es darum geht, wie Dinge, Ereignisse oder innere Zustände,
die ein anderer ganz anders erleben kann, mir ganz persönlich erscheinen (siehe
auch im Glossar unter Bewusstsein: phänomenales Bewusstsein, und
unter Qualia).
[6] Es ist auch
nicht an den Stellen im Gehirn lokalisiert, die im PET-Scan aufleuchten, wenn
zum Beispiel die untersuchte Person Objekte bewusst erkennt (PET=Positronen-Emissions-Tomografie ist eine
Methode, bei der injiziertes radioaktives Wasser Positronen emittiert und dynamische Prozesse im Gehirn sichtbar macht).
Die Hirnaktivität bei bewussten kognitiven Prozessen ist alles andere als
lokal, sondern verteilt sich immer über weite Teile des Gehirns.
[7] Die „Meinhaftigkeit“ des Bewusstseins ist –
wie wir noch sehen werden – eine nützliche Benutzerillusion.
[8] Thomas
Fuchs (2010: „Das Gehirn – ein
Beziehungsorgan“, Zeitschrift „Information Philosophie“, Heft 5/2010) verweist im
Zusammenhang mit der Nichtlokaität von Bewusstsein auf Maurice Merleau-Pontys Begriff der „Zwischenleiblichkeit“
(französisch: „intercorporéité“). Für die Entwicklung des Gehirns sowie der
spezifisch menschlichen Subjektivität und
des Selbstbewusstseins bedürfe
es vor allem der Interaktion mit
anderen, was unter anderem in der Fähigkeit des menschlichen Säuglings zur
spontanen und genauen Imitation von
intentionalen und
expressiven Handlungen anderer erkennbar werde. Fuchs: „Das personale Selbst entwickelt sich erst im Durchgang durch die
Perspektive der Anderen, also mit der Fähigkeit, aus dem eigenen Zentrum
gleichsam herauszutreten und die Sichtweise anderer nachzuvollziehen. Der Geist
ebenso wie die ihm zugrunde liegenden Hirnstrukturen sind wesentlich soziale
und kulturelle Phänomene. Das menschliche Gehirn ist ein wesentlich sozial und
geschichtlich konstituiertes Organ.“
[9] Zumindest ist zurzeit kein technisches
System in Sicht, welches eine dem menschlichen Gehirn vergleichbare Funktion erfüllen könnte.
[10] Wenn ich bislang vereinfachend vom Gehirn gesprochen habe, so war immer das in einen
Gesamtorganismus eingebettete Gehirn gemeint, dessen Funktion losgelöst vom
restlichen Körper gar nicht sinnvoll gesehen werden kann. Das Gehirn ist über
eine Vielzahl von Nervenverbindungen und
auch über humorale Botenstoffe (die
zum Beispiel im Blut transportiert werden) mit dem übrigen Organismus
verbunden. Die Aktivität des Gehirns, die sich in unserem Erleben, Denken, Wollen
und Handeln äußert, schwankt erheblich in Abhängigkeit von
der Verfassung des Körpers, unter anderem vom Alter, von der zirkadianen Rhythmik
(den üblichen Tagesschwankungen), vom Gesundheitszustand, von der Nahrungsaufnahme,
körperlichen Tätigkeit, Ausgeschlafenheit oder Müdigkeit, Wirkung von
Suchtmitteln und Medikamenten. Die Körperverfassung wiederum wird stark von
emotionalen Faktoren beeinflusst.
[11] Siehe Glossar.
[12] Wie das Ich und
das Selbst und
damit das höhere Bewusstsein aus
der Interaktion eines
Kindes mit seiner Umwelt entstehen, wird in den psychoanalytischen
Objektbeziehungs-, ich- und selbstpsychologischen Theorien beschrieben. Diese
Theorien werden uns später noch beschäftigen.
[13] „Selbstobjekt“ ist ein Begriff von Heinz Kohut, der die Funktion eines Menschen oder auch einer Sache für den Aufbau, den
Erhalt und die Entwicklung des Selbsterlebens eines anderen Menschen bezeichnet und uns noch
beschäftigen wird (siehe auch Glossar).
[14] Mit neuronaler
Plastizität wird die Fähigkeit von Gehirnen bezeichnet, neue Verbindungen zwischen
Nervenzellen (Synapsen)
auszubilden, bestehende Verbindungen zu verstärken und überflüssige
Verbindungen aufzulösen. Auf diese Weise können relativ rasch neue
Nervenzellennetzwerke gebildet werden, die neue oder alte (zum
Beispiel beschädigte) Funktionen übernehmen können. Durch ihre Neuroplastizität können sich Gehirne prinzipiell jederzeit umformen, neu
organisieren und sich an neue Anforderungen anpassen. Neuroplastizität ist damit eine
wesentliche Voraussetzung für die Lernfähigkeit von Gehirnen und für das Gedächtnis (weitere Information im Glossar).
[15] Eine Reihe namhafter Philosophen glaubt, dass das Phänomen
„Bewusstsein“ keinen wesentlichen Beitrag zu unserer Erkenntnis der Welt leiste. Die Position des Epiphänomenalismus soll zuerst von
Thomas Henry Huxley (1874:
„On the hypothesis that
animals are automata, and its history”, in: „Fortnightly Review 22”, London, S. 555-580, wieder in: Collected Essays: Volume I, Method and Results, S. 195-250) vertreten worden sein. Unser gesamtes waches, integriertes Verhalten ließe sich vollständig aus
physiologischen Kausalzusammenhängen erklären, in denen wir als erlebende
Subjekte überhaupt nicht vorkommen. Auch ohne unsere subjektive
Innenperspektive würden wir „auf dieselbe Weise
durch die Welt stolpern, wie wir es mit ihr tun“. Selbst auf unser Denken, Sprechen, auf
Erinnerungen und die Steuerung unseres Handelns habe das
Bewusstsein keinen Einfluss; Bewusstsein sei ein reines Epiphänomen, ein sekundäres, oberflächliches und wirkungsloses Nebenprodukt
mentaler Aktivität. Zeitgenössische Autoren wie Patricia Churchland und Georges Rey gehen so weit, sogar den Wert des
Begriffes überhaupt in Frage zu stellen: „Bewusstsein“ sei ein Wort der
Alltagssprache, für das wir eigentlich keinen Bedarf haben.
[16] Als ich vor
sieben Jahren meine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema „Bewusstsein“ und
„Unbewusstes“ begann, hatte ich keine Ahnung davon, dass sich mir im Zuge der
Erschließung der Funktion des menschlichen Bewusstseins die globale kollektive
Verantwortlichkeit eines jeden wirklich bewusstseinsfähigen Menschen so
unausweichlich zeigen würde, eine Verantwortlichkeit, vor der
ich mitunter am liebsten davonlaufen würde.
[17] Unter
anderem in Adlers 1912 erschienenen Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“,
1972 als Fischer Taschenbuch aufgelegt.
[18] Den Begriff „Unbewusstes“
verwende ich in den folgenden Kapiteln dieses Buches als die Gesamtheit aller
ohne Bewusstsein ablaufenden Prozesse und nichtbewussten Faktoren, die für unser Verhalten und Erleben eine kausale Rolle spielen.
[20] Quellen: Horst Robert Balz et
al., 1977: „Theologische Realenzyklopädie, Band 13“, S. 199 ff., de Gruyter und
Nicholas Humphrey, 1997: „Die Naturgeschichte des Ich“, München: Knaur, Original 1992: „A
History of the Mind. Evolution and the Birth of Consciousness“.
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