B e w u s s t s e i n
U n b e w u s s t e s
|
Bewusstsein Theatermetapher |
Bewusstsein: Zusammenfassung von Band I
Was
wissen wir?
Wie
können wir dieses Wissen nutzen?
Wer
oder was sind wir wirklich?
Praxisbezogene
Grundlagen und Antworten
nicht
nur für Psychotherapeut(inn)en
Bewusstsein ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir intuitiv glauben
In
der Psychotherapie und
selbst im Alltag sprechen wir wie selbstverständlich davon,
dass uns etwas bewusst oder unbewusst ist beziehungsweise dass wir
etwas bewusst oder unbewusst tun. Das Wort „Bewusstsein“
erscheint uns so vertraut, dass wir glauben, intuitiv zu
wissen, was es bedeutet. Auch der Begriff des „Unbewussten“ wird von vielen Laien und selbst von den
meisten Therapeuten, die mit ihm arbeiten, ganz selbstverständlich und unreflektiert
verwendet. Oft steht „das Unbewusste“ einfach nur für etwas Unverstandenes oder
eine verborgene Macht, die unser Leben, Handeln und Erleben auf geheimnisvolle
Weise zu steuern scheint.
Dank umfangreicher Forschung können wir heute bewusste und
unbewusste Phänomene und Prozesse in ihrer Wechselwirkung deutlich besser
verstehen. Bei genauerer wissenschaftlicher Betrachtung zeigt sich, dass unser Bewusstsein
in vielerlei Hinsicht ganz anders ist, als wir spontan zu wissen glauben. Es erweist
sich als eine Wirklichkeits- und Benutzerillusion. Die uns umgebende Wirklichkeit
können wir nicht einfach direkt bewusst erleben. Vielmehr wird sie von unserem
Gehirn zuerst in zahllose neuronale (elektrische und chemische) Elementarereignisse
zerlegt. Aus diesen rekonstruiert unser Gehirn über viele Zwischenstufen – vom Einfachen zum
Komplexen hin – eine völlig neue Wirklichkeit, die mit dem sinnlichen Input aus
der Außenwelt erstaunlich wenig zu tun hat.
Es ist nicht die
biologische Aufgabe unserer Sinnesorgane und
unseres Gehirns, die Objekte und Ereignisse in der Außenwelt
möglichst naturgetreu abzubilden, wie wir das zum Beispiel von einer Foto- oder
Filmkamera kennen. Aus ökonomischen Gründen muss sich unser Gehirn ständig gegen Fluten überlebenspraktisch
uninteressanter
Information abschirmen und die Komplexität der
Umwelt stark reduzieren.
Zu diesem Zweck verfügt unser Bewusstsein über
stark vereinfachende
Wirklichkeitshypothesen. Es sucht in der Sinnesinformation vorrangig Bestätigung für sein eigenes
Wirklichkeitsmodell und filtert das meiste, was nicht zu diesem Modell passt, einfach
aus. Wenn wir – vermeintlich hier und jetzt – in die Welt sehen, sehen wir vor
allem etwas aus unserer Vergangenheit und
unsere auf ihr basierenden Erwartungen. Für den größten Teil der Welt sind wir von
Natur aus blind.
|
Bewusstsein bewusst unbewusst |
Die drastischen Wirklichkeitsverkürzungen, die im Alltag von
unschätzbarem Wert sind, können allerdings in neuen Situationen oder
Problemstellungen, in denen unsere bisherigen Wahrnehmungsroutinen, Denkmodelle und gewohnheitsmäßigen
Verhaltensmuster an ihre Grenzen stoßen,
zum Hindernis für adäquate Lösungen und Bewältigungen werden. Denn unsere
Wirklichkeitsillusionen werden
von uns subjektiv zutiefst als objektive Wirklichkeit erlebt.
Das Problem besteht nicht nur darin, dass unsere Wirklichkeitsmodelle irgendwann versagen, weil sie sich
unvermeidlicherweise in unserer sich ständig verändernden Welt überlebt haben.
Das Problem besteht noch mehr darin, dass wir uns der hochgradigen Exformation und
Datenreduktion, die unseren Wirklichkeitsmodellen zugrunde
liegen, in der Regel nicht bewusst sind. Wir neigen dazu, unsere
Wirklichkeitsillusionen als
die ganze Wirklichkeit anzusehen und sie erbittert gegen jene Erfahrungen zu
verteidigen, die mit unseren stark vereinfachten Wirklichkeitsmodellen nicht
kompatibel sind. Der Preis ist hoch und besteht zum Beispiel in wiederholtem
Scheitern und anhaltendem Leiden.
Eine weitere
Illusion und Täuschung besteht darin, dass wir intuitiv glauben, unsere
Aufmerksamkeit willentlich zu steuern. Wir Menschen können
zwar im Gegensatz zu Tieren unsere Aufmerksamkeit Reizen zuwenden, die biologisch eigentlich uninteressant,
aber kulturbedingt bedeutsam sind, sowie uns von biologisch eigentlich
interessanten Reizen willkürlich abwenden. Tatsächlich unterliegt unsere
Aufmerksamkeitssteuerung soziokulturellen Determinanten, die uns in der Regel nicht bewusst sind.
Dadurch dass wir unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig und kulturell gesteuert
immer wieder denselben Dingen oder Denkinhalten zuwenden, erfahren wir auch die
Wirklichkeit in der
immer wieder gleichen Weise. Wenn wir etwas erleben wollen, was wir noch nicht
erlebt haben, wenn wir unsere Gewohnheiten und
unser Bewusstsein verändern wollen, dann müssen wir eine veränderte
Aufmerksamkeitsfokussierung (zum
Beispiel in der Meditation) trainieren.
|
Bewusstsein Theatermetapher |
Bewusstsein und Imitationslernen
Wir Menschen
zeichnen uns durch eine besonders ausgeprägte angeborene Fähigkeit zum sozialen
Imitationslernen aus. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir von frühester
Kindheit an geradezu
gezwungen sind, unsere soziale Umwelt, insbesondere unsere Eltern, nachzuahmen. Dadurch lernen wir viele soziale
Kompetenzen ganz automatisch, ohne besondere Willensanstregung. Unser individuelles Bewusstsein ist folglich
nicht von Natur aus einfach da, sondern es wurde mit einem großen kollektiven
Aufwand hergestellt und wird auch im Erwachsenenleben von der Kultur, in der
wir leben, immer weiter ausgeformt und abgeschliffen. Was wir durch die Kultur lernen, erscheint uns dann später so
selbstverständlich, dass wir oft selbst dann noch an unseren Denk- und Verhaltensmustern und Glaubenssätzen festhalten, wenn sie schon
lange nicht mehr geeignet sind, die aktuellen Lebensanforderungen zu
bewältigen. Zudem können sich in unserem emotionalen
Gedächtnis alte Negativerfahrungen
hartnäckig erhalten und irrationale, im aktuellen Kontext völlig unangemessene
und dysfunktionale Ängste hervorrufen. Nicht selten werden
Menschen oder ganze Systeme hierdurch krank: Sie sind allzu oft und in redundanter Weise nur noch
auf die immer wieder gleichen Probleme, Ängste und
gewohnheits- oder suchtmäßigen Vorlieben eingeengt. Die Aufgabe von Psychotherapie, Beratung oder Coaching ist, solche dysfunktionalen Denk-, Verhaltens-, Bindungs- und Beziehungsmuster sowie
unbewusste Motivationen, die diesen Mustern zugrunde liegen, zu erkennen
und zu verändern.
|
Bewusstsein Kultur |
Bewusstsein, Kultur und Sprache
Mittels Sprache werden wir in die Lage versetzt, Erlebtes
mitzuteillen. Sprache erwerben wir durch intensive kulturelle
Programmierung. Sobald wir die symbolischen Konventionen
unserer Kultur verinnerlicht haben, haben wir Teil an dem gemeinsamen
(geteilten) virtuellen Wirklichkeitsraum, den wir durch sprachliche Mit-Teilung
ständig neu erschaffen. Sobald wir die Sprache erworben haben, prägt die
Kultur (dieses Geflecht aus Gewohnheiten, Gebräuchen und
Überzeugungen) unser Fühlen, Denken und Wollen, solange wir leben. Wenn wir denken, denken wir nicht unsere
eigenen Gedanken, sondern die Gedanken, die zu denken wir von unserer Kultur beauftragt oder zumindest berechtigt sind.
Wenn wir sagen (oder singen): „Die Gedanken sind frei“, dann stimmt das einfach
nicht. Pointiert könnte man auch sagen: Wir denken nicht, sondern wir werden
gedacht. Das Gleiche lässt sich von unserem Wollen sagen: Wenn wir etwas
wollen, wollen wir nicht unseren eigenen Willen, sondern den Willen, den zu wollen wir von unserem
soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind.
Wir Menschen sehnen
uns kulturübergreifend nach plausiblen Geschichten, Narrativen über
den Ursprung und den Wesenskern dessen, was uns scheinbar als Welt umgibt und wer
oder was wir selbst in Bezug auf diese Welt sind. Wir Menschen haben auf diese
Weise eine künstliche, das heißt von der Natur, Physik und Biologie abgehobene
Welt gemeinschaftstauglicher (Sprach-)Bilder erschaffen. Die Bilder dienen uns
als Chiffren für
Erfahrungsbereiche, die anders nicht mitteilbar sind. Wir Menschen können für
das, was wir als Einzelne oder als Gemeinschaft wahrnehmen, erfahren
und erleben, oft mehrere Alternativnarrative konstruieren. Insbesondere moderne
Wissenschaft stützt sich auf Alternativnarrative (Hypothesen), deren Besonderheit darin besteht, dass sie sich
der systematischen empirischen Überprüfung stellen. Alternativnarrative, seien sie nun
wissenschaftlich oder religiös begründet, erlauben unterschiedliche Bewertungen.
Wir benötigen konkurrierende Narrative, um alternative Verhaltensentwürfe
entwerfen, ihre möglichen Konsequenzen voraussehen und nachträglich eine
Bewertung vornehmen zu
können, ob diese Konsequenzen wirklich wünschenswert waren. Eine solche
Bewertung wird wiederum unser Verhalten beeinflussen. Unsere virtuellen
narrativen Wirklichkeiten (Welt 3)
w i r k e n tief in die physikalische
Welt (die sogenannte objektive Welt, Poppers Welt 1) hinein. Sie sind im wörtlichen Sinne w i r k-lich.
Bewusstsein und Körper
Unser Bewusstsein
ist von seinem biologischen Ursprung her ein sinnliches und körpernahes
Phänomen. Unser Gehirn lernt
und begreift nur gemeinsam mit dem Körper als Ganzes, was um uns herum vor sich
geht. Die menschliche Selbstwerdung hängt
mit dem Körper als Ganzen, mit körperlichen Prozessen und körperlichen
Interaktionen zusammen. Selbst unser bewusstes erwachsenes
Welt- und Selbsterleben scheint von früh erworbenen körperlichen
Reaktionsmustern, Gewohnheiten und
Körperhaltungen stark beeinflusst zu sein. Wenn wir unser
Bewusstsein verändern und weiterentwickeln wollen, wird uns das am besten gelingen,
wenn wir an ihm nicht nur mittels intellektueller Einsicht arbeiten, sondern
auch unseren Körper einbeziehen. Die ärztliche Erfahrung lehrt,
dass Körper, Selbsterleben und seelische Gesundheit eng miteinander verwoben sind.
Psychische Symptome bessern sich oft, wenn es
Patient und Arzt gemeinsam gelingt, gestörte Körperfunktionen zu verbessern,
sei es durch die Behandlung hormoneller Dysbalancen, Abschirmung
gegen schädliche Stoffe und Strahlungen, Entlastung und
Entgiftung des Organismus, zum Beispiel durch Darmreinigung, Trinken, Fasten,
Ernährungsumstellung und Rhythmisierung des
Tagesablaufs, durch Nahrungsergänzung mit Spurenelementen, durch Massagen, Physiotherapie, körperliches Training, Sport, Yoga, Atemtechniken, Dehnungsübungen, Wanderungen in der Natur, Klimaveränderung, Umstimmungsreize
(Kneipp, Sauna) oder andere Naturheilverfahren. Körperliche Symptome bessern sich nicht selten schon dadurch, dass der
Patient Vertrauen in ein therapeutisches
Hilfsangebote gewinnt. Noch besser ist, wenn es dem Patient mit Hilfe eines
Arztes oder Psychotherapeuten gelingt, (wieder) Vertrauen in die eigenen
Ressourcen und die eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Auf diese Weise verringern
sich die schädlichen Auswirkungen von seelischen Belastungen, Konflikten,
Persönlichkeitsdefiziten und der allzu häufigen sozialen
und emotionalen Isolierung.
Die verschiedenen Schulen der Körperpsychotherapie verstehen
die bei jedem einzelnen Patienten besondere Körperform, Körperhaltung und
Art sich zu bewegen, zu atmen, das Sinnessystem zu gebrauchen und Affekte auszudrücken, als Ergebnis einer langen
Geschichte von Kommunikationserfahrungen und Körper-Mikropraktiken, die der Patient in der Interaktion mit
seiner sozialen Umgebung von früh an erworben hat. Entsprechend liegt ein
Schwerpunkt der körperpsychotherapeutischen Behandlungstechnik in der Arbeit
mit der Körperselbstempfindung des Patienten
und an den körperlich-sinnlichen Aspekten, die sich im Hier und Jetzt der
Therapeut-Patient-Begegnung (oder auch in einer therapeutischen Gruppensituation)
zeigen: Körperhaltung, Mimik, Gestik, Muskeltonus, Bewegungsabläufe, Atmung, Art des Augenkontakts und
Zuhörens sowie
Ton der Stimme. Auf diese Weise versuchen Körperpsychotherapeuten, Zugang auch zu
jenen nicht bewussten Faktoren zu finden,
welche für die aktuellen Krankheitssymptome des
Patienten eine wichtige Rolle spielen, die sich aber – weil ihre Ursprünge in
die frühen präsymbolischen Lebensphasen zurückreichen – sprachlich nicht
fassen lassen.
Entstehung von phänomenalen Bewusstsein
Gesunde menschliche
Mütter schenken
unter günstigen Umständen den körperlichen Zeichen und Lautäußerungen, welche das innere Befinden des Säuglings widerspiegeln könnten, starke Beachtung und
spiegeln die spontanen
Bewegungen der Säuglings. Indem die Umgebung
die Äußerungen des Säuglings benennt, bei Freude mitschwingt und bei Kummer tröstet,
kann der Säugling seine eigenen Gefühle erkennen. Das Kind internalisiert das Bild der
spiegelnden Mutter, das für die Selbstentwicklung sehr bedeutsam ist. Die Aufmerksamkeit des
Menschenkinds wird so lange auf seinen eigenen Organismus und die in ihm zum
Teil künstlich induzierten Zustände, Empfindungen und
Befindlichkeiten gelenkt, bis sich das Kind schließlich mit ihnen
identifiziert. Unter immensem Enkulturationsaufwand entsteht
so das phänomenale Bewusstsein, unsere Subjektivität, die individuelle Qualitativität und Variationsbreite
unserer Empfindungen und
Gestimmtheiten sowie unsere
Introspektionsfähigkeit. Sie dienen wahrscheinlich der andauernden
Vergewisserung und Beglaubigung unserer eigenen Selbsthaftigkeit sowie der
Wirklichkeit der
Objekte in der Welt.
Das uns antrainierte
phänomenale Bewusstsein, die individuelle Qualitativität unserer Empfindungen und Gestimmtheiten scheinen heute vielfach zum Selbstzweck
geworden zu sein, was sich im Hedonismus unserer
heutigen Spaß-, Luxus-, Bequemlichkeits- und Egotripkultur zeigt. Doch
biologisch und kulturell gesehen sind wir nicht auf dieser Welt, um ständig
glücklich zu sein. Die Kulturgeschichte hat
unser phänomenales Bewusstsein hervorgebracht, damit wir uns so verhalten,
wie es für die Erhaltung der Gemeinschaft und
Kultur, der wir angehören, vorteilhaft ist, damit
wir kollektiv überleben. Die verzweifelte Suche nach privatem Glück, nach
Erfolg und Status, Unterhaltung, materiellem Wohlstand, sinnlicher Stimulation
und Ablenkung und die Vermeidung von Anstrengung sowie die künstliche Abtötung
von Unlust, Schmerz und
Angst führt
zu keiner (Er-)Lösung, sondern vermehrt das Leiden der
Menschen meist noch, weil genau dieses vehemente Streben nach subjektiven
Glücksmomenten den Weg für eine echte Heilung des Einzelnen und der
Gesellschaft verstellt. Allzu häufig aber wird die soziokulturelle Dienstfunktion
unseres subjektiven Empfindens und Befindens verkannt: Wir sind versucht jedoch
zu glauben, dass unser Bewusstsein etwas in uns ist, das wir selbst erzeugen,
und dass die qualitativen Zustände, die wir erleben, uns selbst gehören. Wir
glauben, dass unser Bewusstsein für uns persönlich da ist und uns zu dienen hat.
In dieser antrainierten egozentrischen Benutzerillusion liegt
ja gerade der Trick, der dafür sorgt, dass wir so wunderbar motiviert sind. Nur
wenn wir uns selbst entschlossen in den Dienst der Gemeinschaft und
gegebenenfalls einer höheren Instanz stellen, kann unsere Seele heilen. Unser Bewusstsein befähigt uns auf seinen
fortgeschrittenen Entwicklungsstufen dazu, uns von unseren enkulturierten
Selbstkonzepten sowie unseren
habituellen Denkmustern zu distanzieren und unser Erleben und Wollen, auch
unser Mühen und Leiden in übergeordnete Sinnzusammenhänge einzubetten.
Heinz Kohut hob insgesamt
vier Merkmale eines gesunden Selbst hervor: Autonomie, Selbstwerterleben, Kohärenz (Gefühl
von Beständigkeit, Festigkeit, Einheit und
klarer Identität der
eigenen Persönlichkeit), Vitalität (kraftvolles Zentrum von
Initiative). Laut OPD zeichnet sich
ein Mensch mit einem gut entwickelten Selbst durch ein Gefühl von Identität aus. Er
kann sein Selbstbild und
seinen Selbstwert sowie
seine Steuerungs- und Handlungsfähigkeit immer wieder regulieren.
Fehlt es einem Kind an
Verlässlichkeit und angemessener Befriedigung seiner
Bedürfnisse nach Körperkontakt, sicherer Bindung und
empathischer Spiegelung, kann es zur dauerhaften Beschädigung seines
Selbsterlebens und
Weltbezugs kommen. Es spaltet dann
fortgesetzt die für sein Selbst bedrohlichen Aspekte der Mutter oder
der Ersatzperson sowie seine eigenen negativen Affekte ab.
Die Beziehungen zu anderen Menschen und die Selbstregulierung sind
für ein solches Kind und nur möglich, indem es wesentliche Teile seiner
sozialen Wirklichkeit und
des eigenen Selbst ausblendet.
Eigene negative Affekte wie
Aggression, Wut und
Hass werden
abgespalten.
Wenn wir verstehen,
wie wir geworden sind, können wir vielleicht unser zukünftiges Werden
willentlich beeinflussen. Wir dürfen dann hoffen, nicht mehr alle Muster, die
wir implizit erlernt haben, laufend unbewusst wiederholen zu müssen. Wir könnten uns
gegenseitig und auch unsere Kinder zu bewussteren Menschen mit vielleicht besseren
Aussichten auf ein erfülltes Leben erziehen. Das psychodynamische Verständnis
für das individuelle biografische Gewordensein des Patienten, vor allem für die
unverwechselbare Beschaffenheit seines Selbst, wird es sowohl dem Therapeuten als auch dem
Patienten erleichtern, die Persönlichkeit des
Patienten mit all ihren augenblicklichen Defiziten, aber auch mit ihren besonderen Leistungen (beispielsweise
mit widrigen Bedingungen in der Kindheit fertig
geworden zu sein) anzuerkennen und zu würdigen. Die freundliche, geduldige und
ausdauernd wertschätzende Haltung des Therapeuten wird mit
der Zeit, wenn das Selbst des Patienten nicht allzu stark beschädigt ist, eine
heilsame Wirkung entfalten und den Patienten trösten und
entängstigen. Sie wird ihn ermutigen, seine selbstschädigenden Gewohnheiten Schritt für Schritt zu verändern. Doch ohne
den Blick auf das Ende unseres Daseins, ohne die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und nach dem, was danach kommt,
greift Psychotherapie zu kurz. Sie darf nicht der Angst aller
Ängste ausweichen: der Todesangst, der Angst vor dem unvermeidlichen Verlust
all unserer lieb gewonnenen Bindungen und unseres
Selbst.
Bewusstsein und Geschichten
Kinder fangen im Alter von drei bis vier
Jahren an, ihre Beziehungserfahrungen durch
das Erzählen von Narrativen zu
verarbeiten. Kinder erfinden mit ihren Geschichten Interpretationen ihrer
Beziehungserfahrungen, die für ihr Selbst mit
einem Maximum an Kohärenz einhergehen.
In den Geschichten kompensieren oft wunschgeleitete Fantasien eine
schmerzliche oder gar bedrohliche Realität. Unsichere, traumatische oder konfliktreiche
Bindungserfahrungen sind
mit einem kohärenten Selbstbild nicht
kompatibel und müssen abgewehrt, zum Beispiel abgespalten werden. Unsere autobiografische Geschichte, von der es oft mehrere Versionen gibt und
in der wir stets die Hauptrolle spielen, macht unser narratives Selbst aus
und ist Teil unserer Identität. Auch als Erwachsene erfinden wir ständig
Geschichten, weil wir unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und
anderen rechtfertigen müssen. Solche Geschichten zeigen mitunter eine radikale
Verbiegung oder gar ein krasses Leugnen des
Offensichtlichen. Eine zu große Diskrepanz zwischen erlebter und erzählter
Vergangenheit begünstigt
seelische Störungen.
Da sich an der biografischen
Vergangenheit ohnehin nichts mehr ändern lässt, geht es in
der Psychotherapie vor allem darum, dass Patienten ihre eigene
Biografie in einem neuen Licht sehen können. Das „Nichtverstandene“ will erzählt werden. Unsere
erinnerten Geschichten verändern sich durch die Erinnerung […]. Unsere
Geschichten verändern sich auch, je nachdem, wem wir sie erzählen“ (Kast). „Je
emotionaler eine Situation ist, um so öfter muss von dieser Situation […] immer
wieder erzählt werden, etwa von traumatischen Lebensereignissen […]. Erzählen kann man nur, wenn jemand auch zuhört […]. Im Zuhören öffnet
sich ein Mensch der Welt des anderen, ist offen, ist angesprochen, lässt sich
bewegen vom Gehörten, lässt sich beeindrucken und beeinflussen.“ „Im Zuhören entsteht eine Zugehörigkeit […].
Zuhören heißt weiter auch, in Beziehung zu treten. Nicht zuzuhören zeigt
ein Desinteresse an Beziehung, in einer Erzählsituation kommt es einem
Beziehungsabbruch gleich […]. Die Erzählsituation ermöglicht das
Nichtalleinsein […]. Letztlich geht es doch wohl darum, dass die
Lebensgeschichte als Ganze
so erzählt werden kann, dass sie akzeptabel ist. Sie wird also umerzählt, bis
man sie akzeptieren kann.“
Dasein, Zeit haben und zuhören (DAZZ) – egal, ob ein Patient, der Partner oder
ein Freund über Episoden aus seiner Lebensgeschichte oder
über aktuelle Beschwerden und Sorgen spricht – das sind wesentliche Qualitäten,
die leidende Menschen trösten, entlasten, entängstigen und
ermutigen. Im geduldigen, sich verfrühten Wertungen
und Ratschlägen enthaltenden Zuhören bringt der Zuhörer seine Anteilnahme und
Solidarität mit
dem Erzählenden zum Ausdruck. Wenn man anderen seelisch beistehen will, gibt es
oftmals gar nicht viel mehr zu tun als eben nur das: in einer Atmosphäre von
Zeitlosigkeit spürbar
da zu sein und zuzuhören. In den sozialen Bezügen unserer Leistungs-
und Unterhaltungsgesellschaft mangelt es allzu häufig genau daran: an Zeit
füreinander, an Geduld und an
der Fähigkeit, einander wirklich zuzuhören. Hätten wir eine flächendeckende Kultur von
DAZZ oder
würden wir eine solche Kultur begründen, indem wir uns in Gemeinschaft, mitmenschlicher Solidarität und im
geduldigen Zuhören üben, dann hätte sich die Verordnung von Antidepressiva in
Deutschland in den letzten 15 Jahren vielleicht nicht verdreifachen und sich die
Inanspruchnahme von Psychotherapie vielleicht nicht verdoppeln müssen. Der große
Vorteil von DAZZ ist,
dass es keiner aufwendigen akademischen Ausbildung bedarf. Mit etwas Übung und
der entsprechenden inneren Einstellung ist dazu jeder Mensch mit Herzensbildung
fähig.
Das Ich umfasst die Gesamtheit aller Selbststeuerungs-
und Interaktionsfähigkeiten, die wir zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags benötigen. Wenn man die Ich-Fähigkeiten und -defizite anderer
realistisch einschätzen sowie die biografischen Ursachen für Defizite besser
verstehen kann, kann man – auch mit sich selbst – nachsichtiger, geduldiger und
mitfühlender werden. Die Therapieziele werden realistischer,
Enttäuschungen seltener. Zugleich schärft die Ich-Funktionen-Diagnostik
den Bick für die Ressourcen des Patienten und seines sozialen Umfelds. Für mich persönlich
besteht der größte Vorzug darin, dass ich mir eine Menge Aufregung, Ärger und Enttäuschung über andere Menschen, Patienten wie Nichtpatienten,
sprichwörtlich „schenken“ kann. Ich reagiere zwar nach wie vor – gemäß meiner
eigenen strukturellen Beschaffenheit – mitunter mit starker spontaner
Emotionalität auf das Verhalten anderer Menschen, aber
sobald ich an das Ich-Funktionen-Niveau der Beteiligten denke, mildert sich mein
Affekt ab. Es wird mir dann immer wieder (und
hoffentlich immer öfter) bewusst, dass andere – ebenso wie ich – in ihrer
strukturellen Beschaffenheit gefangen sind und in der Regel nicht irgendwelche
Dinge mit der Absicht tun, mir zu schaden oder meine Bedürfnisse zu missachten. Als Psychotherapeut kann ich
auf diese Weise selbst bei sehr schwierigen und anstrengenden Patienten eine
wohlwollende und emotional unterstützende Beziehung aufrechterhalten.
Die
höheren Bewusstseins- und Ich-Funktionen umfassen
·
unser grundlegendes inneres Wissen, dass wir selbst
und andere Menschen eigenständige geistig-seelische Wesen mit eigenen
Absichten, Wünschen, Gefühlen und Überzeugungen sind, und damit
·
unsere Fähigkeit, andere empathisch und zugleich realistisch wahrzunehmen
·
unsere Fähigkeit zur Selbst-Objekt-Differenzierung
·
unsere Fähigkeit zur angemessenen emotionalen
Kommunikation
·
unsere Fähigkeit, gute innere Bilder von anderen zu
entwerfen und zu bewahren
·
unsere Fähigkeit, zu anderen Menschen
Kontakt herzustellen sowie intime und stabile zwischenmenschliche Bindungen einzugehen
·
unsere Fähigkeit, in
Beziehungen die eigenen Impulse, Affekte und das Selbstwertgefühl zu steuern
·
unsere Fähigkeit,
Interessen auszugleichen und Beziehungen zu schützen
·
unsere Fähigkeit, Bindungen zu
lösen, Trennungen zu
ertragen, sich selbst zu beruhigen, für sich selbst zu sorgen und einzustehen
·
unser Wissen
über unser eigenen Gedächtnis-, Denk- und Lernvorgänge sowie die Steuerung dieser
kognitiven Vorgänge (Metakognition)
·
unsere Fähigkeit, unser eigenes Bewusstsein von einer
Metaposition aus, also aus der Perspektive
eines außenstehenden Beobachters, zu betrachten,
·
unsere Fähigkeit zu zweifeln, uns selbst zu reflektieren und zu überprüfen,
·
unsere Fähigkeit, unsere Erfolge und Misserfolge zu überwachen sowie Prioritäten
setzen zu können
·
unsere Fähigkeit,
die Angemessenheit unserer Wahrnehmungen, Interpretationen, Annahmen, Überzeugungen, Wertmaßstäbe, Wirklichkeitsmodelle und uns selbst als Ganzes in Frage zu stellen
·
unsere Fähigkeit, zwischen unserer eigenen Perspektive und fremden
Perspektiven hin-
und herzuwechseln und wenigstens partiell unseren alltäglichen
naiven Realismus zu überwinden
·
unser Anspruch der Willensfreiheit und Verantwortung
·
unsere Fähigkeit, Gewissen, Werte und Sinnerleben zu
entwickeln sowie Schuld zu empfinden
·
unsere Fähigkeit zur Selbsttranszendenz.
Bewusstsein und Willensfreiheit
Wir fühlen uns in
der Regel nur so lange selbstbestimmt und in unserem Willen frei,
wie wir in unserem Leben von bestimmten Anforderungen, Belastungen und Konflikten verschont
bleiben, die unsere angeborenen und vor allem soziokulturell erworbenen
Bewältigungs- und Anpassungsmöglichkeiten überfordern. Werden wir mit
Situationen und Erfahrungen konfrontiert, die mit unseren enkulturierten
Erwartungen nicht
kompatibel sind und mit unseren üblichen Lösungsstrategien nicht bewältigt
werden können, zum Beispiel traumatische Erfahrungen und
schwere körperliche Krankheiten, geht uns das Gefühl von Selbstbestimmung und
Willensfreiheit leicht
verloren. Eine bedrohliche Qualität können auch unlösbare Konflikte mit
wichtigen Beziehungspersonen annehmen, wenn diese als stabilisierende
Selbstobjekte dringend gebraucht werden und durch den
Konflikt der Fortbestand der Beziehung gefährdet scheint. Bei Zwangs-, Sucht-
und Angsterkrankungen sowie bei depressiven, psychosomatischen und Essstörungen
sind allerdings nicht selten überhaupt keine offensichtlichen aktuellen
Faktoren erkennbar, welche die Krankheit ausgelöst haben könnten. Um zu
verstehen, warum der Patient trotzdem krank geworden ist, wird angenommen, dass
ungünstige frühkindliche Erfahrungen des Patienten eine erhöhte Vulnerabilität seiner
Persönlichkeit für
bestimmte Konflikte, Versuchungs- und
Versagungssituationen begründet haben.
Von Natur aus besitzen wir keinen freien Willen. Die
Neurobiologie einzelner Gehirne erklärt weder Freiheit noch Unfreiheit. Freiheit ist nichts, was Gehirnprozessen inhärent ist, sondern ein von
außen durch Kultur gegebenes symbolbasiertes Konstrukt. Der freie Wille ist eine kollektive Idee, welche – wie das höhere Bewusstsein insgesamt – aus der Interaktion und Kommunikation vieler Gehirne hervorgegangen und zugleich in jedem einzelnen
Gehirn repräsentiert ist. Unsere Kultur stattet uns
mit einem phänomenalen Selbst aus, implantiert in uns ihr Wertesystem, verordnet uns eine Wahlmöglichkeit und verlangt, dass wir das kollektiv Erwünschte
wollen und auch wählen. Durch
unsere Erziehung werden
wir Menschen in das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Freiheit einerseits
und sozialer Verpflichtung andererseits gestellt. Ohne diese Inkonsistenzspannung gäbe
es wahrscheinlich gar keine Wahlfreiheit. Erst wenn uns Entscheidungen schwerfallen,
bei kognitiver Dissonanz, im Zustand emotionalen Hin- und
Hergerissenseins, werden wir aus unseren alltäglichen Denk-, Bewertungs- und
Verhaltensmustern herausgerissen. Erst dann fokussieren wir unsere
Aufmerksamkeit und
alle mentalen Ressourcen auf
die Entscheidungsfindung.
Willensfreiheit hängt
eng mit Verantwortungsfähigkeit zusammen. Unser
soziales Zusammenleben funktioniert wesentlich auf der
Grundlage dessen, dass wir uns gegenseitig Verantwortungsfähigkeit zutrauen. Unser soziales
Zusammenleben beruht wesentlich auf der
impliziten Voraussetzung, dass wir uns gegenseitig als willensfrei und
verantwortlich ansehen, behandeln und behandeln lassen. Der Anspruch,
willensfrei und verantwortungsfähig zu sein, ist für viele Menschen eine große
Bürde und schlägt oft in Orientierungslosigkeit,
Angst, Verzweiflung, Versagens- und Schuldgefühle oder auch in völlige Erschöpfung
um. An Patienten mit strukturellen Defiziten zeigt sich am deutlichsten, dass uns
Willensfreiheit und Verantwortung nicht einfach angeboren sind. Wenn
Patienten ihre eigenen Defizite,
Ressourcen,
nicht bewussten Motivationen und Hemmungen sowie alternative Muster der
Lebensbewältigung kennenlernen, werden sie dadurch
nicht zwangsläufig freier, aber vielleicht etwas weniger unfrei. Sie erweitern
zumindest potenziell ihre Wahlmöglichkeiten und Freiheitsgrade.
Psychodynamische
Therapieverfahren verfolgen das Ziel, durch mehr Kontrolle des
Ich über
die nicht bewussten Motivationen die
Zwangsläufigkeit von innerseelischen Prozessen und von Verhaltensmustern zu vermindern
und damit mehr Wahlfreiheit des
Patienten zu ermöglichen. Der Patient soll die schädlichen und leidvollen
unbewussten Muster seiner
Vergangenheit nicht
mehr ständig wiederholen müssen. Die
meisten Psychotherapiemethoden versuchen, seelisch kranke Menschen aus der
Macht schädlicher Determinanten und Muster der Vergangenheit zu befreien.
Eine der wichtigsten und schwierigsten Entwicklungsaufgaben besteht
darin, dass die Patienten sich selbst, ihre zukünftigen Rollen, ihre
Lebensziele, Ideale, Visionen und
gegebenenfalls ihre Bestimmung im Leben definieren. Eine wichtige Frage ist, w
o f ü r die Patienten ihre in der
Therapie errungenen Freiheitsgrade nutzen
wollen. Es geht um einen soliden Entwurf für ihren zukünftigen Lebensweg.
Die potenziell gefährliche Autonomie und Freiheit eines sich seiner selbst bewussten Selbst erfordert die wirksame soziale Kontrolle dieses
Selbst durch die Gewissensinstanz. Das Gewissen drängt uns zur Regelkonformität, zwingt uns aber nicht. Der deutlichste Ausdruck
unserer Freiheit ist unser
Erleben von inneren Konflikten zwischen verinnerlichten sozialen Regeln, altruistischen Erwartungen und idealtypischen Anforderungen und jenen Antrieben und Bedürfnissen, die mit diesen Regeln,
Anforderungen und Erwartungen nicht kompatibel sind. Gewissenskonflikte können sich
auch aus konkurrierenden Regeln und Werten ergeben. Wer zum Erleben von
Gewissenskonflikten befähigt
ist, kann auch echte Verantwortung tragen. Schuldbewusstsein und
Schuldgefühle sind
Fähigkeiten, die dazu beitragen, Beziehungen zu regulieren und zu erhalten. Eine
wesentliche Funktion kommt dabei dem mit ihnen verbundenen Leidensdruck zu.
Die schmerzliche und
mitunter pathologische Qualität von Schuldgefühlen erklärt
sich teilweise aus einer Biografie mit
zahlreichen leidvoll erfahrenen Sanktionen und der daraus resultierenden Furcht vor
erneuter Bestrafung. Schuldgefühle können
aber auch eine Art Trennungsschmerz verkörpern,
dann nämlich, wenn wir die Verbundenheit mit einem
geliebten Vorbild unterbrechen, weil wir im Rahmen unserer Individuation diesem
Vorbild wenigstens partiell untreu werden und unseren eigenen Weg gehen müssen.
Dank unserer Schuldgefühle können
wir mit unseren geliebten Vorbildern verbunden bleiben und trotzdem autonom werden. Die Aufrechterhaltung von Bindung dürfte
eine der wichtigsten psychodynamischen Funktionen von Schuldgefühlen sein.
Schuldgefühle haben
die Funktion, uns daran zu hindern, Regelverletzungen zu
wiederholen und uns außerhalb der Gemeinschaft zu
stellen. Schuldgefühle sind auch
eine innere Aufforderung, Regelverletzungen wiedergutzumachen und damit beschädigte
Bindungen zu
reparieren.
Die uns von unserer
Kultur auferlegte Freiheit zwingt
uns dazu, Entscheidungen zu treffen, was wir aus unserem Leben machen möchten. Unsere persönlichen Zielbestimmungen,
Planungen und Zielkorrekturen müssen wir zudem innerhalb eines konfliktträchtigen
Spannungsfelds zwischen den uns enkulturierten altruistischen Werten sowie
den uns ebenfalls antrainierten egoistischen Wertmaßstäben vornehmen. Viele
Menschen scheinen mit dieser Aufgabe überfordert und verfallen in einen Zustand genereller Ziellosigkeit oder
Zielverfehlung (griech. „hamartia“) ihres Lebens. Alfred Adler und
Viktor Frankl haben die große
Bedeutung von sozial wertvollen
und sinnhaften Lebenszielen für
die Psychotherapie besonders
hervorgehoben. Die Hauptursache für seelische Krankheiten
und Persönlichkeitsstörungen besteht für Adler darin,
dass Menschen von ihrem Gemeinschaftssinn abgeschnitten sind und andere Ziele (vor
allem Geltungs- und
Überlegenheitsstreben) verfolgen als das Ziel, für die
Gemeinschaft wertvoll zu sein. Eine wesentliche Aufgabe von
Psychotherapie ist
laut Adler daher,
den geheimen Lebensplan, dem ein zwanghaftes Überlegensstreben zugrunde liegt,
bewusst zu machen und stattdessen ein Streben nach einem adäquaten gemeinschaftlichen Beitrag zu fördern.
Nach Frankl leiden
viele Patienten an einer durch Sinnleere ausgelösten existenziellen Frustration. Ohne Sinn und
Werte entstünden
chronische Langeweile, ein Gefühl von innerer Leere, Passivität, Gefühlsarmut, Orientierungslosigkeit, Mangel an Entschlusskraft, Verlust an Initiative,
Hoffnungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Der existenziell Frustrierte könne
auf der Flucht vor der inneren Leere und
von einem neurotischen Lebenshunger getrieben ständig auf der Suche nach Lust und Spaß
sein. In Frankls Logotherapie geht
es darum, dass sich die Patienten bewusst werden, wie sehr sie sich
selbst von einem erfüllten Leben trennen, wenn sie ihre Potenziale und
sinnhaften Seinsmöglichkeiten verfehlen. Sie sollen die mitunter sehr leise
Stimme ihres Gewissens (für
Frankl das
Sinn-Organ) wahrnehmen und in ihrem Leben Sinn-
und Verdienstvolles verwirklichen. Auch Aaron Antonovsky betonte
die wichtige Rolle des Erlebens von Sinnhaftigkeit für
die seelische Gesundheit. Die Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit („meaningfulness“)
des eigenen Lebens ist für Antonovsky die
wichtigste Komponente eines guten Kohärenzgefühls, das für ihn darüber hinaus in einem soliden
Vertrauen auf die
Vorhersehbarkeit und Erklärbarkeit („comprehensibility“) sowie Bewältigbarkeit
(„manageability“) der Anforderungen des
Lebens besteht. Dank unserer Willensfreiheit, verbunden mit unserem Gewissen, unserem Werte- und Schuldbewusstsein sowie
unserem Willen zum
Sinn, sind
wir in der Lage, volle Verantwortung für
uns selbst und für die Gemeinschaften, denen wir angehören, zu tragen.
Bewusstsein und Tod
Die
menschentypische, über die biologischen Überlebensreflexe hinausgehende Angst vor
dem Tod beruht
zu einem großen Teil auf der äußerst intensiven Enkulturierung des
individuellen Selbst, verbunden mit dem antrainierten subjektiven
phänomenalen Erleben sowie
der hochgradigen Identifikation dieses
Selbst mit seiner eigenen Biografie, seinen sozialen Rollen und
Bindungen, Aufgaben, Bedeutungen und
Besitzständen. Der Verlust des Selbst ist
vor diesem Hintergrund eine unerträgliche Perspektive. Wir sind mit unserem
phänomenalen Selbst- und Welterleben, in dem wir selbst ganz selbstverständlich den
räumlichen Mittelpunkt und Ausgangspunkt autonomer Willensakte bilden, in einer sozioökonomisch höchst nützlichen
Benutzerillusion gefangen. Diese Benutzerillusion erschwert den Abschied aus den vielfältigen
Bindungen an Mitmenschen, Rollen, Aufgaben, Bedeutungen oder an materielle Besitztümer.
|
Bewusstsein und Tod |
Seit
Jahrtausenden beziehen sich Menschen auf eine sinnlich nicht wahrnehmbare
Wirklichkeit. Vieles spricht dafür, dass über
alle kulturellen Unterschiede hinweg im Menschen ein Grundgefühl verwurzelt ist,
dass die sichtbare, phänomenale Wirklichkeit nicht die einzige und die letztlich
wesentliche ist; mit diesem Grundgefühl ist die Sehnsucht nach
einer höheren Macht verbunden, zu welcher der Mensch in Kontakt treten kann und
die sein Schicksal beeinflusst. In den Religionen geht
es in der Regel darum, die Bedeutung der eigenen Individualität zu
relativieren und die Ansprüche des eigenen Selbst einem
höheren Willen oder
Prinzip unterzuordnen. In allen Weltreligionen spielt auch der hingebungsvolle
Dienst an anderen Menschen, insbesondere an den Armen und Hilfsbedürftigen,
eine große Rolle.
Die Relativierung
des eigenen Selbst und
eine altruistische, prosoziale Lebensführung wird auch von nicht religiös
motivierten Philosophien und Therapierichtungen angestrebt. Das Aufgehen in einer
subjektiv als wichtig und sinnvoll erlebten Aufgabe scheint generell ein hohes
Maß an jenen heilsamen Erfahrungen zu ermöglichen, für die Mihály
Csíkszentmihályi das
Wort „Flow“ einführte. Viktor Frankl sprach
von Selbsttranszendenz, wenn es einem Menschen gelingt, ganz aufzugehen
in einer als zutiefst sinnvoll erlebten Sache oder/und in der Hingabe an
eine andere Person. Ganz selbst wird der Mensch nach Frankl da, wo
er sich selbst übersieht und vergisst, wo er also seine Selbstbezogenheit und
Egozentrik überwindet.
Frankl sah es als eine wesentliche Aufgabe der Logotherapie an,
Patienten ihre unbewusste Religiosität und verdrängte
Gottbezogenheit bewusst zu machen und ihr Vertrauen in den Übersinn zu stärken.
Menschen,
die sich in einer stabilen und positiven Beziehung zu Gott erleben, verfügen über eine zusätzliche
Qualität von Bindung, die für sie in
belastenden Lebensphasen, hilfreich sein kann. Religionen sind
vor allem ein kollektives Phänomen. Sie liefern eine gemeinsame Matrix, in der
die Gläubigen mit ihren wichtigsten Lebensanliegen zueinander und – allein oder
gemeinsam – zu Gott in
Beziehung treten können. Eine Religion bindet
die vielen voneinander getrennten individuellen Wirklichkeiten zusammen zu
einer einzigen, einheitlichen, für alle verbindlichen und damit alle verbindenden
Wirklichkeit. Die Gläubigen fügen sich in die gemeinsame
Matrix ein und erwerben damit das Anrecht auf Teilhabe an der Glaubensgemeinschaft sowie
auf Schutz und
Unterstützung durch diese Gemeinschaft. Mit Hilfe ihrer Botschaften, Riten und
Kulte richten Religionen systematisch einen
wesentlichen Teil der Aufmerksamkeit, des Denkens und der Affektivität ihrer
Mitglieder auf einen gemeinsamen Bezugspunkt
a u ß e r h a l b der
Gemeinschaft aus, im
Falle der abrahamitischen Religionen auf
Gott. Der Glaube an Gott verspricht Juden, Christen und Moslems
gleichermaßen – selbst über die Grenze des Todes hinweg – absolute
Bindungssicherheit und Geborgenheit. Allein schon das Versprechen absoluter
Bindungssicherheit hat tröstliche und entängstigende Wirkungen.
Die
Gottesvorstellung impliziert, dass wir als Menschen wesentliche Dinge nicht
wahrnehmen, nicht erkennen und nicht begreifen können, sosehr wir auch unser
Wissen und unsere kognitiven Fähigkeiten individuell und kollektiv ausdehnen. Damit
stellen Religionen den naiven Realismus und die Selbstverständlichkeit der uns antrainierten Wirklichkeitsillusionen in einer für jedermann begreifbaren Weise in
Frage. Die
durch die Religionen vermittelte Metaebene befähigt nicht nur einzelne Menschen, sondern
auch Kollektive,
zum Beispiel Familien, soziale
Schichten, Völker oder die ganze Menschheit, gemeinsam die Perspektive zu wechseln und
alternative Standpunkte einzunehmen. Die verschiedenen Religionen stellen
in ihren Texten und mit ihren Riten wirksame Metaphern und Instrumente
zur Verfügung, mit deren Hilfe die Gläubigen über alle sozialen und
intellektuellen Unterschiede hinweg die Bedeutung der phänomenalen Welt und
des eigenen phänomenalen Selbst relativieren
können. Ein Maß an Naivität und Kindlichkeit im Glauben ist aus christlicher Sicht unverzichtbar, um Erfahrungen jenseits der vertrauten,
enkulturierten Kategorien und des sinnlich sowie verstandesmäßig Fassbaren machen zu können: beglückende
Erfahrungen von Ganz-im-Hier-und-Jetzt-Sein, von Freiheit von
enkulturierten Zweifeln, von Freiheit von
Inkonsistenzspannungen und von Selbstvergessenheit.
Praktische
Bedeutung der höheren Ich-Leistungen in der Psychotherapie
Von der Qualität höheren Ich-Leistungen hängt ab, wie gut es
uns gelingt, unser interaktives Verhalten auch unter den verschiedensten Anforderungen nicht alltäglicher sozialer Kontexte zu regulieren und wie gut wir unser
Selbsterleben auch dann
noch regulieren können, wenn es innerhalb von wichtigen Bindungen zu Konflikten kommt. Wenn wir wichtige
Bindungen verloren
haben oder ein solcher Verlust droht. Wenn wir mit unseren Grenzen konfrontiert
werden, vor allem mit den Grenzen unserer körperlichen und geistigen Gesundheit
und Leistungsfähigkeit, mit den Grenzen unserer Bedürfnisbefriedigung sowie mit der Begrenzheit unserer physischen
Lebenszeit.
In der Psychotherapie scheint mir die
Fähigkeit zum virtuellen Standortwechsel (uns selbst, andere Menschen und die
Welt aus theoretisch beliebig vielen vorgestellten Perspektiven – Metaebenen –
betrachten und entsprechend viele alternative Wirklichkeitsmodelle entwerfen und auch wieder verwerfen zu können)
grundlegend. Wir können die
jeweilige individuelle Perspektive verschiedener Mitmenschen einnehmen. Wir
können gemeinsam mit anderen eine überindividuelle, kollektive Sichtweise einnehmen.
Wir können, insbesondere wenn wir uns einer monotheistischen Religion zugehörig fühlen, alleine oder mit anderen
Gläubigen zusammen Hypothesen darüber
bilden, wie eine übernatürliche Instanz, zum Beispiel Gott, die Dinge sehen könnte.
Alle diese
Erweiterungen unserer egozentrischen Perspektive sowie die daraus resultierenden
alternativen Wirklichkeitsmodelle und Verhaltensoptionen verbessern unsere Chance, verbessern auch die Chance
der Gemeinschaft, der wir angehören, geeignete Lösungen für
bestimmte Problemstellungen zu finden: Wir können uns in andere Menschen einfühlen,
ihr Verhalten verstehen und voraussehen. Wir können uns gemeinschaftliche Werte zueigen machen, Gewissen, Verantwortungsgefühl und Sinnerleben entwickeln. Aus der Metaposition heraus
sind wir in der Lage, das äußerst eingeengte Gesichtsfeld unseres Bewusstseins zu erahnen und die Angemessenheit unserer Wahrnehmungen, Interpretationen, Annahmen, Überzeugungen, Wertmaßstäbe und Wirklichkeitsmodelle anzuzweifeln. Der virtuelle Perspektivenwechsel befähigt uns, die Zuverlässigkeit und die Grenzen unserer eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu
hinterfragen, die Funktionalität und
Angemessenheit unserer erlernten Automatismen, Gewohnheiten und
Routinen zu
überprüfen, uns willentlich neuen Lernprozessen zu unterwerfen und neue
Verhaltensweisen zu
erproben.
Ein generelles Problem bei Patienten
mit neurotischen Störungen sind ihre pathologischen Metakognitionen: Viele von
ihnen grübeln, zweifeln, mutmaßen, klagen sich selbst oder andere an, ohne dass
ihre exzessive Reflexion zu befriedigenden Lösungen führt. Es fehlt in ihrem
Denken der entscheidende Standortwechsel, das Verlassen ihrer egozentrischen Benutzerillusion und das
Einnehmen einer echten Metaposition. Als psychodynamisch orientierter Psychotherapeut lade ich meine Patienten dazu ein, ihre gewohnte egozentrische
Benutzerillusion mit meiner Hilfe zu verlassen und sich selbst sowie ihre
Schwierigkeiten im Leben von verschiedenen virtuellen Metapositionen aus zu
betrachten. Wir
nehmen gemeinsam eine externe Perspektive ein und betrachten unsere Interaktion aus einigem
Abstand. Der Patient kann von diesem neuen Blickwinkel aus neue Einsichten
darüber gewinnen, welche unbewussten Interaktionsmuster nicht nur in
der Therapiebeziehung mit mir, sondern auch in anderen wichtigen
Beziehungen des Patienten immer wieder ablaufen und ihm möglicherweise schaden.
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Günter Gödde und Gerhard Scheidhauer, die beide mein Manuskript gründlich durchgearbeitet und mich bei meiner Arbeit sehr ermutigt haben. Günter Gödde ist ein großer Kenner des Unbewussten, Autor und Herausgeber grundlegender Bücher zu dieser Thematik. Sein fachkundiges und in einigen wichtigen Punkten auch kritisches Feedback hat zur thematischen und didaktischen Stringenz des Buches beigetragen. Dem Theologen Gerhard Scheidhauer verdanke ich wertvolle geistes- und religionsgeschichtliche Ergänzungen.
Udo Boessmann, Wiesbaden im April 2013