Freitag, 15. August 2014

Bewusst und Unbewusst - Ausweg aus der Matrix

  

 

Bewusst und Unbewusst – Gibt es einen Ausweg aus der Matrix?


Bewusstsein Unbewusstes

  Von Mag. Claudia Fabrizy

Unser Bewusstsein funktioniert ähnlich wie in dem Film „Matrix“: Es ist eine Benutzeroberfläche, die uns eine Welt vorspielt, in deren Zentrum wir zu leben glauben. Wenn alles gut läuft, hinterfragen wir unser Erleben nicht. Kommt es aber zu Störungen und psychischen Symptomen, stehen wir wie Neo im Film „Matrix“ vor der Herausforderung, die unbewussten Vorgänge hinter der Kulisse unter die Lupe zu nehmen.

Dass das Unbewusste schwer zu fassen ist, überrascht nicht. Dass aber auch unser Bewusstsein nicht das ist, was es zu sein scheint, provoziert den Verstand. „Die neueste empirische Forschung zeigt, dass unser Bewusstsein ganz anders ist, als wir spontan zu wissen glauben. Es erweist sich als eine Wirklichkeits- und Benutzerillusion“, sagt Udo Boessmann, Arzt, Psychotherapeut und Dozent für Psychotherapie. In seinem Buch „Bewusstsein - Unbewusstes“ geht er den Fragen nach, was wir eigentlich wissen und wer wir wirklich sind. Dabei kommt er zu erstaunlichen Ergebnissen.

Entgegen der landläufigen Meinung ist unser Bewusstsein nicht einfach „von Natur aus da“, sondern wird durch die Kultur, in der wir leben, geformt. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir von frühester Kindheit an unsere soziale Umwelt imitieren; die so genannten Spiegelneuronen springen automatisch an, ob wir wollen oder nicht. Bewusstsein ist also nicht etwas, das wir „besitzen“, es ist etwas, das laufend interaktiv „hergestellt wird“. Selbst der Eindruck, dass wir unsere Aufmerksamkeit willentlich steuern, ist meist eine Täuschung. Die uns als objektiv erscheinende Wirklichkeit ist in Wahrheit von uns selbst erzeugt; wir können die Welt nicht einfach auf direktem Weg bewusst erleben. Sie wird von unserem Gehirn zuerst in neuronale Elementarereignisse zerlegt und dann neu zusammengesetzt. Das so entstandene, extrem verkürzte Bild von der Wirklichkeit ist notwendig, denn ohne es wären wir gar nicht handlungsfähig. Um so schnell zu reagieren, wie das Leben es verlangt, müssen wir – das hat uns die Evolution gelehrt – auf Genauigkeit verzichten.

Unsere Blindheit für Details ist also ungemein nützlich. Sie kann aber auch zu viel Leid führen, wenn wir unsere Wirklichkeitsillusionen als die ganze Wirklichkeit ansehen, z.B. bei Schubladendenken und Vorurteilen. „An einmal gelernten Glaubenssätze und Verhaltensmustern halten wir gerne fest, auch wenn sie schon lange nicht mehr geeignet sind, wichtige aktuelle Lebensanforderungen zu bewältigen. Nicht selten werden Menschen oder ganze Systeme hierdurch krank“, schreibt Udo Boessmann. Auch können sich in unserem emotionalen Gedächtnis negative Erfahrungen hartnäckig erhalten und völlig unangemessene Ängste hervorrufen.

Als Menschen haben wir allerdings auch die Fähigkeit zur Metakognition und zum Perspektivenwechsel, das heißt, wir können uns selbst und unser Denken hinterfragen und uns von außen betrachten. Aufgabe von Psychotherapie, Beratung oder Coaching ist es, dysfunktionale Muster zu erkennen und zu verändern. Udo Boessmann gibt in seinem Buch Praxistipps, wie wir an der Matrix unseres Bewusstseins arbeiten und unsere Entwicklung in die eigene Hand nehmen können. Hier fünf Beispiele:

1. Staunend durch die Welt gehen

Oft ist unser Leben auf immer wieder gleiche Probleme, Ängste und gewohnheits- oder suchtmäßige Vorlieben eingeengt. Am Anfang der Philosophie und Spiritualität steht dagegen das Staunen über Dinge, die andere für selbstverständlich halten. Wir müssen wieder lernen, mit offenen und staunenden Kinderaugen durch die Welt zu gehen und sich von ihrer Vielfalt emotional berühren zu lassen. Manchmal tut es gut, etwas Neues, scheinbar Verrücktes zu erleben, etwas, das man noch nicht erfahren hat. Um das Bewusstsein nachhaltig zu verändern, muss die Aufmerksamkeit neu ausgerichtet werden. Diese veränderte Aufmerksamkeitsfokussierung kann man trainieren, zum Beispiel durch Meditation oder in der Psychotherapie. Das Vorbild und die Hilfe anderer sind dabei unverzichtbar.

2. Mit dem Körper arbeiten

Unser Bewusstsein ist sinnlich und körpernah, Körper, Geist und Seele sind untrennbar miteinander verbunden. Das Gehirn lernt und begreift nur zusammen mit dem Körper. Die Art wie wir uns bewegen, wie wir unsere Sinne gebrauchen und Affekte ausdrücken ist das Ergebnis einer langen Geschichte von Interaktions-Erfahrungen mit unserer sozialen Umgebung. Alles, was wir je erlebt haben, wird in unserem Gehirn und unserem Körper gespeichert. Wenn wir unser Bewusstsein verändern wollen, müssen wir daher auch den Körper einbeziehen. Die verschiedenen Schulen der Körperpsychotherapie suchen Zugang zu jenen nicht bewussten Faktoren, die für aktuelle Krankheitssymptome eine wichtige Rolle spielen, sich sprachlich aber nicht fassen lassen. Darüber hinaus bessern sich psychische Symptome oft, wenn man gestörte Körperfunktionen behandelt, sei es etwa durch Hormonregulierung, Entlastung und Entgiftung des Organismus, Sport, Atemtechniken, Yoga und jede Art von therapeutischer Arbeit mit dem Körper.

3. Füreinander da sein, Zeit haben, Zuhören

Der Ausdruck „sich etwas von der Seele reden“ kommt nicht von ungefähr: Wir verarbeiten unsere Probleme, indem wir darüber erzählen. In der Psychotherapie geht es vor allem darum, die eigene, oft schmerzvolle Lebensgeschichte in einem anderen Licht zu sehen, sie „umzuerzählen“, bis sie akzeptiert werden kann. Je emotional belastender eine Situation war, desto öfter muss davon erzählt werden. Dasein, Zeit haben und Zuhören (DAZZ) ist ein Wundermittel, das jeder von uns anwenden kann. Wenn man anderen seelisch beistehen will, gibt es oftmals gar nicht viel mehr zu tun, als in einer Atmosphäre von Zeitlosigkeit spürbar da zu sein und ohne verfrühte Wertungen und Ratschläge zuzuhören. „Hätten wir eine flächendeckende Kultur von DAZZ“, so Boessmann, „dann hätte sich die Verordnung von Antidepressiva in Deutschland in den letzten 15 Jahren vielleicht nicht verdreifachen und sich die Inanspruchnahme von Psychotherapie vielleicht nicht verdoppeln müssen.“

4. Spannungen schöpferisch verwandeln

Als Natur- und Kulturwesen geraten unsere Antriebe und emotionalen Bedürfnisse leicht in Konflikt mit den Anforderungen der sozialen Umwelt. Die daraus resultierenden „Inkonsistenzspannungen“ sind schmerzhaft und können ab einem bestimmten Ausmaß sogar zu psychischen Erkrankungen führen. Wer seine inneren Spannungen einfach loswerden will, zum Beispiel mit Ablenkung, Konsum und Suchtverhalten, verschärft auf Dauer das Problem noch. Die Herausforderung besteht darin, sich von alten Denkmustern zu befreien und die unausweichliche innere Zerrissenheit, also unser Leiden, in einem übergeordneten Sinnzusammenhang zu transformieren. Dies geschieht zum Beispiel, indem wir unser schöpferisches Potenzial entfalten, uns einer erfüllenden Aufgabe widmen oder uns in den Dienst für andere Menschen stellen.

5. Sinnerleben statt Glückssuche

Persönliches Glück ist für viele das höchste Ziel. Eine Fülle von Ratgebern und Workshops lockt mit einfachen Rezepten, wie dieses Glück in fünf Schritten oder mit zehn Regeln hergestellt werden kann. Doch wer ständig nach mehr Genuss und Erfolg oder nach Vermeidung von Unlust, Schmerz und Angst strebt, erlebt auf Dauer keine (Er-)Lösung, sondern vermehrt sogar auf lange Sicht sein Leiden. Paradoxerweise verstellt gerade das vehemente Streben nach Glücksmomenten den Weg für eine echte Heilung des Einzelnen und der Gesellschaft. Unsere Form von Bewusstsein hat sich nicht entwickelt, damit wir ständig glücklich sind. Als sich selbst hinterfragende Wesen streben wir nach einem sinnerfüllten Dasein. Im sinnvollen Tun und Selbstvergessen stellt sich das Glück dann als Nebeneffekt ein.

Mehr zum Buch "Bewusstsein und Unbewusstes"

Bewusstsein Unbewusstes bewusst unbewusst 

Mittwoch, 4. September 2013

Bewusstsein: Zusammenfassung des Buches



B e w u s s t s e i n

U n b e w u s s t e s


Bewusstsein Theatermetapher

Bewusstsein: Zusammenfassung von Band I


Was wissen wir? 
Wie können wir dieses Wissen nutzen?
Wer oder was sind wir wirklich?
Praxisbezogene Grundlagen und Antworten
nicht nur für Psychotherapeut(inn)en


Bewusstsein ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was wir intuitiv glauben

In der Psychotherapie und selbst im Alltag sprechen wir wie selbstverständlich davon, dass uns etwas bewusst oder unbewusst ist beziehungsweise dass wir etwas bewusst oder unbewusst tun. Das Wort „Bewusstsein“ erscheint uns so vertraut, dass wir glauben, intuitiv zu wissen, was es bedeutet. Auch der Begriff des „Unbewussten“ wird von vielen Laien und selbst von den meisten Therapeuten, die mit ihm arbeiten, ganz selbstverständlich und unreflektiert verwendet. Oft steht „das Unbewusste“ einfach nur für etwas Unverstandenes oder eine verborgene Macht, die unser Leben, Handeln und Erleben auf geheimnisvolle Weise zu steuern scheint.

Dank umfangreicher Forschung können wir heute bewusste und unbewusste Phänomene und Prozesse in ihrer Wechselwirkung deutlich besser verstehen. Bei genauerer wissenschaftlicher Betrachtung zeigt sich, dass unser Bewusstsein in vielerlei Hinsicht ganz anders ist, als wir spontan zu wissen glauben. Es erweist sich als eine Wirklichkeits- und Benutzerillusion. Die uns umgebende Wirklichkeit können wir nicht einfach direkt bewusst erleben. Vielmehr wird sie von unserem Gehirn zuerst in zahllose neuronale (elektrische und chemische) Elementarereignisse zerlegt. Aus diesen rekonstruiert unser Gehirn über viele Zwischenstufen – vom Einfachen zum Komplexen hin – eine völlig neue Wirklichkeit, die mit dem sinnlichen Input aus der Außenwelt erstaunlich wenig zu tun hat.


Es ist nicht die biologische Aufgabe unserer Sinnesorgane und unseres Gehirns, die Objekte und Ereignisse in der Außenwelt möglichst naturgetreu abzubilden, wie wir das zum Beispiel von einer Foto- oder Filmkamera kennen. Aus ökonomischen Gründen muss sich unser Gehirn ständig gegen Fluten überlebenspraktisch uninteressanter Information abschirmen und die Komplexität der Umwelt stark reduzieren. Zu diesem Zweck verfügt unser Bewusstsein über stark vereinfachende Wirklichkeitshypothesen. Es sucht in der Sinnesinformation vorrangig Bestätigung für sein eigenes Wirklichkeitsmodell und filtert das meiste, was nicht zu diesem Modell passt, einfach aus. Wenn wir – vermeintlich hier und jetzt – in die Welt sehen, sehen wir vor allem etwas aus unserer Vergangenheit und unsere auf ihr basierenden Erwartungen. Für den größten Teil der Welt sind wir von Natur aus blind.
Bewusstsein bewusst unbewusst

Die drastischen Wirklichkeitsverkürzungen, die im Alltag von unschätzbarem Wert sind, können allerdings in neuen Situationen oder Problemstellungen, in denen unsere bisherigen Wahrnehmungsroutinen, Denkmodelle und gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster an ihre Grenzen stoßen, zum Hindernis für adäquate Lösungen und Bewältigungen werden. Denn unsere Wirklichkeitsillusionen werden von uns subjektiv zutiefst als objektive Wirklichkeit erlebt. Das Problem besteht nicht nur darin, dass unsere Wirklichkeitsmodelle irgendwann versagen, weil sie sich unvermeidlicherweise in unserer sich ständig verändernden Welt überlebt haben. Das Problem besteht noch mehr darin, dass wir uns der hochgradigen Exformation und Datenreduktion, die unseren Wirklichkeitsmodellen zugrunde liegen, in der Regel nicht bewusst sind. Wir neigen dazu, unsere Wirklichkeitsillusionen als die ganze Wirklichkeit anzusehen und sie erbittert gegen jene Erfahrungen zu verteidigen, die mit unseren stark vereinfachten Wirklichkeitsmodellen nicht kompatibel sind. Der Preis ist hoch und besteht zum Beispiel in wiederholtem Scheitern und anhaltendem Leiden.

Eine weitere Illusion und Täuschung besteht darin, dass wir intuitiv glauben, unsere Aufmerksamkeit willentlich zu steuern. Wir Menschen können zwar im Gegensatz zu Tieren unsere Aufmerksamkeit Reizen zuwenden, die biologisch eigentlich uninteressant, aber kulturbedingt bedeutsam sind, sowie uns von biologisch eigentlich interessanten Reizen willkürlich abwenden. Tatsächlich unterliegt unsere Aufmerksamkeitssteuerung soziokulturellen Determinanten, die uns in der Regel nicht bewusst sind. Dadurch dass wir unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig und kulturell gesteuert immer wieder denselben Dingen oder Denkinhalten zuwenden, erfahren wir auch die Wirklichkeit in der immer wieder gleichen Weise. Wenn wir etwas erleben wollen, was wir noch nicht erlebt haben, wenn wir unsere Gewohnheiten und unser Bewusstsein verändern wollen, dann müssen wir eine veränderte Aufmerksamkeitsfokussierung (zum Beispiel in der Meditation) trainieren.
Bewusstsein Theatermetapher

Bewusstsein und Imitationslernen

Wir Menschen zeichnen uns durch eine besonders ausgeprägte angeborene Fähigkeit zum sozialen Imitationslernen aus. Unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir von frühester Kindheit an geradezu gezwungen sind, unsere soziale Umwelt, insbesondere unsere Eltern, nachzuahmen. Dadurch lernen wir viele soziale Kompetenzen ganz automatisch, ohne besondere Willensanstregung. Unser individuelles Bewusstsein ist folglich nicht von Natur aus einfach da, sondern es wurde mit einem großen kollektiven Aufwand hergestellt und wird auch im Erwachsenenleben von der Kultur, in der wir leben, immer weiter ausgeformt und abgeschliffen. Was wir durch die Kultur lernen, erscheint uns dann später so selbstverständlich, dass wir oft selbst dann noch an unseren Denk- und Verhaltensmustern und Glaubenssätzen festhalten, wenn sie schon lange nicht mehr geeignet sind, die aktuellen Lebensanforderungen zu bewältigen. Zudem können sich in unserem emotionalen Gedächtnis alte Negativerfahrungen hartnäckig erhalten und irrationale, im aktuellen Kontext völlig unangemessene und dysfunktionale Ängste hervorrufen. Nicht selten werden Menschen oder ganze Systeme hierdurch krank: Sie sind allzu oft und in redundanter Weise nur noch auf die immer wieder gleichen Probleme, Ängste und gewohnheits- oder suchtmäßigen Vorlieben eingeengt. Die Aufgabe von Psychotherapie, Beratung oder Coaching ist, solche dysfunktionalen Denk-, Verhaltens-, Bindungs- und Beziehungsmuster sowie unbewusste Motivationen, die diesen Mustern zugrunde liegen, zu erkennen und zu verändern.


Bewusstsein Kultur

Bewusstsein, Kultur und Sprache

Mittels Sprache werden wir in die Lage versetzt, Erlebtes mitzuteillen. Sprache erwerben wir durch intensive kulturelle Programmierung. Sobald wir die symbolischen Konventionen unserer Kultur verinnerlicht haben, haben wir Teil an dem gemeinsamen (geteilten) virtuellen Wirklichkeitsraum, den wir durch sprachliche Mit-Teilung ständig neu erschaffen. Sobald wir die Sprache erworben haben, prägt die Kultur (dieses Geflecht aus Gewohnheiten, Gebräuchen und Überzeugungen) unser Fühlen, Denken und Wollen, solange wir leben. Wenn wir denken, denken wir nicht unsere eigenen Gedanken, sondern die Gedanken, die zu denken wir von unserer Kultur beauftragt oder zumindest berechtigt sind. Wenn wir sagen (oder singen): „Die Gedanken sind frei“, dann stimmt das einfach nicht. Pointiert könnte man auch sagen: Wir denken nicht, sondern wir werden gedacht. Das Gleiche lässt sich von unserem Wollen sagen: Wenn wir etwas wollen, wollen wir nicht unseren eigenen Willen, sondern den Willen, den zu wollen wir von unserem soziokulturellen Hintergrund beauftragt oder zumindest berechtigt sind.

Wir Menschen sehnen uns kulturübergreifend nach plausiblen Geschichten, Narrativen über den Ursprung und den Wesenskern dessen, was uns scheinbar als Welt umgibt und wer oder was wir selbst in Bezug auf diese Welt sind. Wir Menschen haben auf diese Weise eine künstliche, das heißt von der Natur, Physik und Biologie abgehobene Welt gemeinschaftstauglicher (Sprach-)Bilder erschaffen. Die Bilder dienen uns als Chiffren für Erfahrungsbereiche, die anders nicht mitteilbar sind. Wir Menschen können für das, was wir als Einzelne oder als Gemeinschaft wahrnehmen, erfahren und erleben, oft mehrere Alternativnarrative konstruieren. Insbesondere moderne Wissenschaft stützt sich auf Alternativnarrative (Hypothesen), deren Besonderheit darin besteht, dass sie sich der systematischen empirischen Überprüfung stellen. Alternativnarrative, seien sie nun wissenschaftlich oder religiös begründet, erlauben unterschiedliche Bewertungen. Wir benötigen konkurrierende Narrative, um alternative Verhaltensentwürfe entwerfen, ihre möglichen Konsequenzen voraussehen und nachträglich eine Bewertung vornehmen zu können, ob diese Konsequenzen wirklich wünschenswert waren. Eine solche Bewertung wird wiederum unser Verhalten beeinflussen. Unsere virtuellen narrativen Wirklichkeiten (Welt 3)  w i r k e n  tief in die physikalische Welt (die sogenannte objektive Welt, Poppers Welt 1) hinein. Sie sind im wörtlichen Sinne  w i r k-lich.

Bewusstsein und Körper

Unser Bewusstsein ist von seinem biologischen Ursprung her ein sinnliches und körpernahes Phänomen. Unser Gehirn lernt und begreift nur gemeinsam mit dem Körper als Ganzes, was um uns herum vor sich geht. Die menschliche Selbstwerdung hängt mit dem Körper als Ganzen, mit körperlichen Prozessen und körperlichen Interaktionen zusammen. Selbst unser bewusstes erwachsenes Welt- und Selbsterleben scheint von früh erworbenen körperlichen Reaktionsmustern, Gewohnheiten und Körperhaltungen stark beeinflusst zu sein. Wenn wir unser Bewusstsein verändern und weiterentwickeln wollen, wird uns das am besten gelingen, wenn wir an ihm nicht nur mittels intellektueller Einsicht arbeiten, sondern auch unseren Körper einbeziehen. Die ärztliche Erfahrung lehrt, dass Körper, Selbsterleben und seelische Gesundheit eng miteinander verwoben sind.

Psychische Symptome bessern sich oft, wenn es Patient und Arzt gemeinsam gelingt, gestörte Körperfunktionen zu verbessern, sei es durch die Behandlung hormoneller Dysbalancen, Abschirmung gegen schädliche Stoffe und Strahlungen, Entlastung und Entgiftung des Organismus, zum Beispiel durch Darmreinigung, Trinken, Fasten, Ernährungsumstellung und Rhythmisierung des Tagesablaufs, durch Nahrungsergänzung mit Spurenelementen, durch Massagen, Physiotherapie, körperliches Training, Sport, Yoga, Atemtechniken, Dehnungsübungen, Wanderungen in der Natur, Klimaveränderung, Umstimmungsreize (Kneipp, Sauna) oder andere Naturheilverfahren. Körperliche Symptome bessern sich nicht selten schon dadurch, dass der Patient Vertrauen in ein therapeutisches Hilfsangebote gewinnt. Noch besser ist, wenn es dem Patient mit Hilfe eines Arztes oder Psychotherapeuten gelingt, (wieder) Vertrauen in die eigenen Ressourcen und die eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Auf diese Weise verringern sich die schädlichen Auswirkungen von seelischen Belastungen, Konflikten, Persönlichkeitsdefiziten und der allzu häufigen sozialen und emotionalen Isolierung.

Die verschiedenen Schulen der Körperpsychotherapie verstehen die bei jedem einzelnen Patienten besondere Körperform, Körperhaltung und Art sich zu bewegen, zu atmen, das Sinnessystem zu gebrauchen und Affekte auszudrücken, als Ergebnis einer langen Geschichte von Kommunikationserfahrungen und Körper-Mikropraktiken, die der Patient in der Interaktion mit seiner sozialen Umgebung von früh an erworben hat. Entsprechend liegt ein Schwerpunkt der körperpsychotherapeutischen Behandlungstechnik in der Arbeit mit der Körperselbstempfindung des Patienten und an den körperlich-sinnlichen Aspekten, die sich im Hier und Jetzt der Therapeut-Patient-Begegnung (oder auch in einer therapeutischen Gruppensituation) zeigen: Körperhaltung, Mimik, Gestik, Muskeltonus, Bewegungsabläufe, Atmung, Art des Augenkontakts und Zuhörens sowie Ton der Stimme. Auf diese Weise versuchen Körperpsychotherapeuten, Zugang auch zu jenen nicht bewussten Faktoren zu finden, welche für die aktuellen Krankheitssymptome des Patienten eine wichtige Rolle spielen, die sich aber – weil ihre Ursprünge in die frühen präsymbolischen Lebensphasen zurückreichen – sprachlich nicht fassen lassen.

Entstehung von phänomenalen Bewusstsein

Gesunde menschliche Mütter schenken unter günstigen Umständen den körperlichen Zeichen und Lautäußerungen, welche das innere Befinden des Säuglings widerspiegeln könnten, starke Beachtung und spiegeln die spontanen Bewegungen der Säuglings. Indem die Umgebung die Äußerungen des Säuglings benennt, bei Freude mitschwingt und bei Kummer tröstet, kann der Säugling seine eigenen Gefühle erkennen. Das Kind internalisiert das Bild der spiegelnden Mutter, das für die Selbstentwicklung sehr bedeutsam ist. Die Aufmerksamkeit des Menschenkinds wird so lange auf seinen eigenen Organismus und die in ihm zum Teil künstlich induzierten Zustände, Empfindungen und Befindlichkeiten gelenkt, bis sich das Kind schließlich mit ihnen identifiziert. Unter immensem Enkulturationsaufwand entsteht so das phänomenale Bewusstsein, unsere Subjektivität, die individuelle Qualitativität und Variationsbreite unserer Empfindungen und Gestimmtheiten sowie unsere Introspektionsfähigkeit. Sie dienen wahrscheinlich der andauernden Vergewisserung und Beglaubigung unserer eigenen Selbsthaftigkeit sowie der Wirklichkeit der Objekte in der Welt.

Das uns antrainierte phänomenale Bewusstsein, die individuelle Qualitativität unserer Empfindungen und Gestimmtheiten scheinen heute vielfach zum Selbstzweck geworden zu sein, was sich im Hedonismus unserer heutigen Spaß-, Luxus-, Bequemlichkeits- und Egotripkultur zeigt. Doch biologisch und kulturell gesehen sind wir nicht auf dieser Welt, um ständig glücklich zu sein. Die Kulturgeschichte hat unser phänomenales Bewusstsein hervorgebracht, damit wir uns so verhalten, wie es für die Erhaltung der Gemeinschaft und Kultur, der wir angehören, vorteilhaft ist, damit wir kollektiv überleben. Die verzweifelte Suche nach privatem Glück, nach Erfolg und Status, Unterhaltung, materiellem Wohlstand, sinnlicher Stimulation und Ablenkung und die Vermeidung von Anstrengung sowie die künstliche Abtötung von Unlust, Schmerz und Angst führt zu keiner (Er-)Lösung, sondern vermehrt das Leiden der Menschen meist noch, weil genau dieses vehemente Streben nach subjektiven Glücksmomenten den Weg für eine echte Heilung des Einzelnen und der Gesellschaft verstellt. Allzu häufig aber wird die soziokulturelle Dienstfunktion unseres subjektiven Empfindens und Befindens verkannt: Wir sind versucht jedoch zu glauben, dass unser Bewusstsein etwas in uns ist, das wir selbst erzeugen, und dass die qualitativen Zustände, die wir erleben, uns selbst gehören. Wir glauben, dass unser Bewusstsein für uns persönlich da ist und uns zu dienen hat. In dieser antrainierten egozentrischen Benutzerillusion liegt ja gerade der Trick, der dafür sorgt, dass wir so wunderbar motiviert sind. Nur wenn wir uns selbst entschlossen in den Dienst der Gemeinschaft und gegebenenfalls einer höheren Instanz stellen, kann unsere Seele heilen. Unser Bewusstsein befähigt uns auf seinen fortgeschrittenen Entwicklungsstufen dazu, uns von unseren enkulturierten Selbstkonzepten sowie unseren habituellen Denkmustern zu distanzieren und unser Erleben und Wollen, auch unser Mühen und Leiden in übergeordnete Sinnzusammenhänge einzubetten.

Heinz Kohut hob insgesamt vier Merkmale eines gesunden Selbst hervor: Autonomie, Selbstwerterleben, Kohärenz (Gefühl von Beständigkeit, Festigkeit, Einheit und klarer Identität der eigenen Persönlichkeit), Vitalität (kraftvolles Zentrum von Initiative). Laut OPD zeichnet sich ein Mensch mit einem gut entwickelten Selbst durch ein Gefühl von Identität aus. Er kann sein Selbstbild und seinen Selbstwert sowie seine Steuerungs- und Handlungsfähigkeit immer wieder regulieren. Fehlt es einem Kind an Verlässlichkeit und angemessener Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Körperkontakt, sicherer Bindung und empathischer Spiegelung, kann es zur dauerhaften Beschädigung seines Selbsterlebens und Weltbezugs kommen. Es spaltet dann fortgesetzt die für sein Selbst bedrohlichen Aspekte der Mutter oder der Ersatzperson sowie seine eigenen negativen Affekte ab. Die Beziehungen zu anderen Menschen und die Selbstregulierung sind für ein solches Kind und nur möglich, indem es wesentliche Teile seiner sozialen Wirklichkeit und des eigenen Selbst ausblendet. Eigene negative Affekte wie Aggression, Wut und Hass werden abgespalten.

Wenn wir verstehen, wie wir geworden sind, können wir vielleicht unser zukünftiges Werden willentlich beeinflussen. Wir dürfen dann hoffen, nicht mehr alle Muster, die wir implizit erlernt haben, laufend unbewusst wiederholen zu müssen. Wir könnten uns gegenseitig und auch unsere Kinder zu bewussteren Menschen mit vielleicht besseren Aussichten auf ein erfülltes Leben erziehen. Das psychodynamische Verständnis für das individuelle biografische Gewordensein des Patienten, vor allem für die unverwechselbare Beschaffenheit seines Selbst, wird es sowohl dem Therapeuten als auch dem Patienten erleichtern, die Persönlichkeit des Patienten mit all ihren augenblicklichen Defiziten, aber auch mit ihren besonderen Leistungen (beispielsweise mit widrigen Bedingungen in der Kindheit fertig geworden zu sein) anzuerkennen und zu würdigen. Die freundliche, geduldige und ausdauernd wertschätzende Haltung des Therapeuten wird mit der Zeit, wenn das Selbst des Patienten nicht allzu stark beschädigt ist, eine heilsame Wirkung entfalten und den Patienten trösten und entängstigen. Sie wird ihn ermutigen, seine selbstschädigenden Gewohnheiten Schritt für Schritt zu verändern. Doch ohne den Blick auf das Ende unseres Daseins, ohne die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und nach dem, was danach kommt, greift Psychotherapie zu kurz. Sie darf nicht der Angst aller Ängste ausweichen: der Todesangst, der Angst vor dem unvermeidlichen Verlust all unserer lieb gewonnenen Bindungen und unseres Selbst.

Bewusstsein und Geschichten

Kinder fangen im Alter von drei bis vier Jahren an, ihre Beziehungserfahrungen durch das Erzählen von Narrativen zu verarbeiten. Kinder erfinden mit ihren Geschichten Interpretationen ihrer Beziehungserfahrungen, die für ihr Selbst mit einem Maximum an Kohärenz einhergehen. In den Geschichten kompensieren oft wunschgeleitete Fantasien eine schmerzliche oder gar bedrohliche Realität. Unsichere, traumatische oder konfliktreiche Bindungserfahrungen sind mit einem kohärenten Selbstbild nicht kompatibel und müssen abgewehrt, zum Beispiel abgespalten werden. Unsere autobiografische Geschichte, von der es oft mehrere Versionen gibt und in der wir stets die Hauptrolle spielen, macht unser narratives Selbst aus und ist Teil unserer Identität. Auch als Erwachsene erfinden wir ständig Geschichten, weil wir unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und anderen rechtfertigen müssen. Solche Geschichten zeigen mitunter eine radikale Verbiegung oder gar ein krasses Leugnen des Offensichtlichen. Eine zu große Diskrepanz zwischen erlebter und erzählter Vergangenheit begünstigt seelische Störungen.

Da sich an der biografischen Vergangenheit ohnehin nichts mehr ändern lässt, geht es in der Psychotherapie vor allem darum, dass Patienten ihre eigene Biografie in einem neuen Licht sehen können. Das „Nichtverstandene“ will erzählt werden. Unsere erinnerten Geschichten verändern sich durch die Erinnerung […]. Unsere Geschichten verändern sich auch, je nachdem, wem wir sie erzählen“ (Kast). „Je emotionaler eine Situation ist, um so öfter muss von dieser Situation […] immer wieder erzählt werden, etwa von traumatischen Lebensereignissen […]. Erzählen kann man nur, wenn jemand auch zuhört […]. Im Zuhören öffnet sich ein Mensch der Welt des anderen, ist offen, ist angesprochen, lässt sich bewegen vom Gehörten, lässt sich beeindrucken und beeinflussen.“  „Im Zuhören entsteht eine Zugehörigkeit […]. Zuhören heißt weiter auch, in Beziehung zu treten. Nicht zuzuhören zeigt ein Desinteresse an Beziehung, in einer Erzählsituation kommt es einem Beziehungsabbruch gleich […]. Die Erzählsituation ermöglicht das Nichtalleinsein […]. Letztlich geht es doch wohl darum, dass die Lebensgeschichte als Ganze so erzählt werden kann, dass sie akzeptabel ist. Sie wird also umerzählt, bis man sie akzeptieren kann.“

Dasein, Zeit haben und zuhören (DAZZ) – egal, ob ein Patient, der Partner oder ein Freund über Episoden aus seiner Lebensgeschichte oder über aktuelle Beschwerden und Sorgen spricht – das sind wesentliche Qualitäten, die leidende Menschen trösten, entlasten, entängstigen und ermutigen. Im geduldigen, sich verfrühten Wertungen und Ratschlägen enthaltenden Zuhören bringt der Zuhörer seine Anteilnahme und Solidarität mit dem Erzählenden zum Ausdruck. Wenn man anderen seelisch beistehen will, gibt es oftmals gar nicht viel mehr zu tun als eben nur das: in einer Atmosphäre von Zeitlosigkeit spürbar da zu sein und zuzuhören. In den sozialen Bezügen unserer Leistungs- und Unterhaltungsgesellschaft mangelt es allzu häufig genau daran: an Zeit füreinander, an Geduld und an der Fähigkeit, einander wirklich zuzuhören. Hätten wir eine flächendeckende Kultur von DAZZ oder würden wir eine solche Kultur begründen, indem wir uns in Gemeinschaft, mitmenschlicher Solidarität und im geduldigen Zuhören üben, dann hätte sich die Verordnung von Antidepressiva in Deutschland in den letzten 15 Jahren vielleicht nicht verdreifachen und sich die Inanspruchnahme von Psychotherapie vielleicht nicht verdoppeln müssen. Der große Vorteil von DAZZ ist, dass es keiner aufwendigen akademischen Ausbildung bedarf. Mit etwas Übung und der entsprechenden inneren Einstellung ist dazu jeder Mensch mit Herzensbildung fähig.

Das Ich umfasst die Gesamtheit aller Selbststeuerungs- und Interaktionsfähigkeiten, die wir zur Bewältigung der Anforderungen des Alltags benötigen. Wenn man die Ich-Fähigkeiten und -defizite anderer realistisch einschätzen sowie die biografischen Ursachen für Defizite besser verstehen kann, kann man – auch mit sich selbst – nachsichtiger, geduldiger und mitfühlender werden. Die Therapieziele werden realistischer, Enttäuschungen seltener. Zugleich schärft die Ich-Funktionen-Diagnostik den Bick für die Ressourcen des Patienten und seines sozialen Umfelds. Für mich persönlich besteht der größte Vorzug darin, dass ich mir eine Menge Aufregung, Ärger und Enttäuschung über andere Menschen, Patienten wie Nichtpatienten, sprichwörtlich „schenken“ kann. Ich reagiere zwar nach wie vor – gemäß meiner eigenen strukturellen Beschaffenheit – mitunter mit starker spontaner Emotionalität auf das Verhalten anderer Menschen, aber sobald ich an das Ich-Funktionen-Niveau der Beteiligten denke, mildert sich mein Affekt ab. Es wird mir dann immer wieder (und hoffentlich immer öfter) bewusst, dass andere – ebenso wie ich – in ihrer strukturellen Beschaffenheit gefangen sind und in der Regel nicht irgendwelche Dinge mit der Absicht tun, mir zu schaden oder meine Bedürfnisse zu missachten. Als Psychotherapeut kann ich auf diese Weise selbst bei sehr schwierigen und anstrengenden Patienten eine wohlwollende und emotional unterstützende Beziehung aufrechterhalten.

Die höheren Bewusstseins- und Ich-Funktionen umfassen

·         unser grundlegendes inneres Wissen, dass wir selbst und andere Menschen eigenständige geistig-seelische Wesen mit eigenen Absichten, Wünschen, Gefühlen und Überzeugungen sind, und damit
·         unsere Fähigkeit, andere empathisch und zugleich realistisch wahrzunehmen
·         unsere Fähigkeit zur Selbst-Objekt-Differenzierung
·         unsere Fähigkeit zur angemessenen emotionalen Kommunikation 
·         unsere Fähigkeit, gute innere Bilder von anderen zu entwerfen und zu bewahren
·         unsere Fähigkeit, zu anderen Menschen Kontakt herzustellen sowie intime und stabile zwischenmenschliche Bindungen einzugehen
·         unsere Fähigkeit, in Beziehungen die eigenen Impulse, Affekte und das Selbstwertgefühl zu steuern
·         unsere Fähigkeit, Interessen auszugleichen und Beziehungen zu schützen
·         unsere Fähigkeit, Bindungen zu lösen, Trennungen zu ertragen, sich selbst zu beruhigen, für sich selbst zu sorgen und einzustehen
·         unser Wissen über unser eigenen Gedächtnis-, Denk- und Lernvorgänge sowie die Steuerung dieser kognitiven Vorgänge (Metakognition)
·         unsere Fähigkeit, unser eigenes Bewusstsein von einer Metaposition aus, also aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters, zu betrachten,
·         unsere Fähigkeit zu zweifeln, uns selbst zu reflektieren und zu überprüfen,
·         unsere Fähigkeit, unsere Erfolge und Misserfolge zu überwachen sowie Prioritäten setzen zu können
·         unsere Fähigkeit, die Angemessenheit unserer Wahrnehmungen, Interpretationen, Annahmen, Überzeugungen, Wertmaßstäbe, Wirklichkeitsmodelle und uns selbst als Ganzes in Frage zu stellen
·         unsere Fähigkeit, zwischen unserer eigenen Perspektive und fremden Perspektiven hin- und herzuwechseln und wenigstens partiell unseren alltäglichen naiven Realismus zu überwinden
·         unser Anspruch der Willensfreiheit und Verantwortung
·         unsere Fähigkeit, Gewissen, Werte und Sinnerleben zu entwickeln sowie Schuld zu empfinden
·         unsere Fähigkeit zur Selbsttranszendenz.

Bewusstsein und Willensfreiheit

Wir fühlen uns in der Regel nur so lange selbstbestimmt und in unserem Willen frei, wie wir in unserem Leben von bestimmten Anforderungen, Belastungen und Konflikten verschont bleiben, die unsere angeborenen und vor allem soziokulturell erworbenen Bewältigungs- und Anpassungsmöglichkeiten überfordern. Werden wir mit Situationen und Erfahrungen konfrontiert, die mit unseren enkulturierten Erwartungen nicht kompatibel sind und mit unseren üblichen Lösungsstrategien nicht bewältigt werden können, zum Beispiel traumatische Erfahrungen und schwere körperliche Krankheiten, geht uns das Gefühl von Selbstbestimmung und Willensfreiheit leicht verloren. Eine bedrohliche Qualität können auch unlösbare Konflikte mit wichtigen Beziehungspersonen annehmen, wenn diese als stabilisierende Selbstobjekte dringend gebraucht werden und durch den Konflikt der Fortbestand der Beziehung gefährdet scheint. Bei Zwangs-, Sucht- und Angsterkrankungen sowie bei depressiven, psychosomatischen und Essstörungen sind allerdings nicht selten überhaupt keine offensichtlichen aktuellen Faktoren erkennbar, welche die Krankheit ausgelöst haben könnten. Um zu verstehen, warum der Patient trotzdem krank geworden ist, wird angenommen, dass ungünstige frühkindliche Erfahrungen des Patienten eine erhöhte Vulnerabilität seiner Persönlichkeit für bestimmte Konflikte, Versuchungs- und Versagungssituationen begründet haben.

Von Natur aus besitzen wir keinen freien Willen. Die Neurobiologie einzelner Gehirne erklärt weder Freiheit noch Unfreiheit. Freiheit ist nichts, was Gehirnprozessen inhärent ist, sondern ein von außen durch Kultur gegebenes symbolbasiertes Konstrukt. Der freie Wille ist eine kollektive Idee, welche – wie das höhere Bewusstsein insgesamt – aus der Interaktion und Kommunikation vieler Gehirne hervorgegangen und zugleich in jedem einzelnen Gehirn repräsentiert ist. Unsere Kultur stattet uns mit einem phänomenalen Selbst aus, implantiert in uns ihr Wertesystem, verordnet uns eine Wahlmöglichkeit und verlangt, dass wir das kollektiv Erwünschte wollen und auch wählen. Durch unsere Erziehung werden wir Menschen in das Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der Freiheit einerseits und sozialer Verpflichtung andererseits gestellt. Ohne diese Inkonsistenzspannung gäbe es wahrscheinlich gar keine Wahlfreiheit. Erst wenn uns Entscheidungen schwerfallen, bei kognitiver Dissonanz, im Zustand emotionalen Hin- und Hergerissenseins, werden wir aus unseren alltäglichen Denk-, Bewertungs- und Verhaltensmustern herausgerissen. Erst dann fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit und alle mentalen Ressourcen auf die Entscheidungsfindung.

Willensfreiheit hängt eng mit Verantwortungsfähigkeit zusammen. Unser soziales Zusammenleben funktioniert wesentlich auf der Grundlage dessen, dass wir uns gegenseitig Verantwortungsfähigkeit zutrauen. Unser soziales Zusammenleben beruht wesentlich auf der impliziten Voraussetzung, dass wir uns gegenseitig als willensfrei und verantwortlich ansehen, behandeln und behandeln lassen. Der Anspruch, willensfrei und verantwortungsfähig zu sein, ist für viele Menschen eine große Bürde und schlägt oft in Orientierungslosigkeit, Angst, Verzweiflung, Versagens- und Schuldgefühle oder auch in völlige Erschöpfung um. An Patienten mit strukturellen Defiziten zeigt sich am deutlichsten, dass uns Willensfreiheit und Verantwortung nicht einfach angeboren sind. Wenn Patienten ihre eigenen Defizite, Ressourcen, nicht bewussten Motivationen und Hemmungen sowie alternative Muster der Lebensbewältigung kennenlernen, werden sie dadurch nicht zwangsläufig freier, aber vielleicht etwas weniger unfrei. Sie erweitern zumindest potenziell ihre Wahlmöglichkeiten und Freiheitsgrade.

Psychodynamische Therapieverfahren verfolgen das Ziel, durch mehr Kontrolle des Ich über die nicht bewussten Motivationen die Zwangsläufigkeit von innerseelischen Prozessen und von Verhaltensmustern zu vermindern und damit mehr Wahlfreiheit des Patienten zu ermöglichen. Der Patient soll die schädlichen und leidvollen unbewussten Muster seiner Vergangenheit nicht mehr ständig wiederholen müssen. Die meisten Psychotherapiemethoden versuchen, seelisch kranke Menschen aus der Macht schädlicher Determinanten und Muster der Vergangenheit zu befreien. Eine der wichtigsten und schwierigsten Entwicklungsaufgaben besteht darin, dass die Patienten sich selbst, ihre zukünftigen Rollen, ihre Lebensziele, Ideale, Visionen und gegebenenfalls ihre Bestimmung im Leben definieren. Eine wichtige Frage ist, w o f ü r  die Patienten ihre in der Therapie errungenen Freiheitsgrade nutzen wollen. Es geht um einen soliden Entwurf für ihren zukünftigen Lebensweg.    

Die potenziell gefährliche Autonomie und Freiheit eines sich seiner selbst bewussten Selbst erfordert die wirksame soziale Kontrolle dieses Selbst durch die Gewissensinstanz. Das Gewissen drängt uns zur Regelkonformität, zwingt uns aber nicht. Der deutlichste Ausdruck unserer Freiheit ist unser Erleben von inneren Konflikten zwischen verinnerlichten sozialen Regeln, altruistischen Erwartungen und idealtypischen Anforderungen und jenen Antrieben und Bedürfnissen, die mit diesen Regeln, Anforderungen und Erwartungen nicht kompatibel sind. Gewissenskonflikte können sich auch aus konkurrierenden Regeln und Werten ergeben. Wer zum Erleben von Gewissenskonflikten befähigt ist, kann auch echte Verantwortung tragen. Schuldbewusstsein und Schuldgefühle sind Fähigkeiten, die dazu beitragen, Beziehungen zu regulieren und zu erhalten. Eine wesentliche Funktion kommt dabei dem mit ihnen verbundenen Leidensdruck zu.

Die schmerzliche und mitunter pathologische Qualität von Schuldgefühlen erklärt sich teilweise aus einer Biografie mit zahlreichen leidvoll erfahrenen Sanktionen und der daraus resultierenden Furcht vor erneuter Bestrafung. Schuldgefühle können aber auch eine Art Trennungsschmerz verkörpern, dann nämlich, wenn wir die Verbundenheit mit einem geliebten Vorbild unterbrechen, weil wir im Rahmen unserer Individuation diesem Vorbild wenigstens partiell untreu werden und unseren eigenen Weg gehen müssen. Dank unserer Schuldgefühle können wir mit unseren geliebten Vorbildern verbunden bleiben und trotzdem autonom werden.  Die Aufrechterhaltung von Bindung dürfte eine der wichtigsten psychodynamischen Funktionen von Schuldgefühlen sein. Schuldgefühle haben die Funktion, uns daran zu hindern, Regelverletzungen zu wiederholen und uns außerhalb der Gemeinschaft zu stellen. Schuldgefühle sind auch eine innere Aufforderung, Regelverletzungen wiedergutzumachen und damit beschädigte Bindungen zu reparieren.

Die uns von unserer Kultur auferlegte Freiheit zwingt uns dazu, Entscheidungen zu treffen, was wir aus unserem Leben machen möchten. Unsere persönlichen Zielbestimmungen, Planungen und Zielkorrekturen müssen wir zudem innerhalb eines konfliktträchtigen Spannungsfelds zwischen den uns enkulturierten altruistischen Werten sowie den uns ebenfalls antrainierten egoistischen Wertmaßstäben vornehmen. Viele Menschen scheinen mit dieser Aufgabe überfordert und verfallen in einen Zustand genereller Ziellosigkeit oder Zielverfehlung (griech. „hamartia“) ihres Lebens. Alfred Adler und Viktor Frankl haben die große Bedeutung von sozial wertvollen und sinnhaften Lebenszielen für die Psychotherapie besonders hervorgehoben. Die Hauptursache für seelische Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen besteht für Adler darin, dass Menschen von ihrem Gemeinschaftssinn abgeschnitten sind und andere Ziele (vor allem Geltungs- und Überlegenheitsstreben) verfolgen als das Ziel, für die Gemeinschaft wertvoll zu sein. Eine wesentliche Aufgabe von Psychotherapie ist laut Adler daher, den geheimen Lebensplan, dem ein zwanghaftes Überlegensstreben zugrunde liegt, bewusst zu machen und stattdessen ein Streben nach einem adäquaten gemeinschaftlichen Beitrag zu fördern.

Nach Frankl leiden viele Patienten an einer durch Sinnleere ausgelösten existenziellen Frustration. Ohne Sinn und Werte entstünden chronische Langeweile, ein Gefühl von innerer Leere, Passivität, Gefühlsarmut, Orientierungslosigkeit, Mangel an Entschlusskraft, Verlust an Initiative, Hoffnungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Der existenziell Frustrierte könne auf der Flucht vor der inneren Leere und von einem neurotischen Lebenshunger getrieben ständig auf der Suche nach Lust und Spaß sein. In Frankls Logotherapie geht es darum, dass sich die Patienten bewusst werden, wie sehr sie sich selbst von einem erfüllten Leben trennen, wenn sie ihre Potenziale und sinnhaften Seinsmöglichkeiten verfehlen. Sie sollen die mitunter sehr leise Stimme ihres Gewissens (für Frankl das Sinn-Organ) wahrnehmen und in ihrem Leben Sinn- und Verdienstvolles verwirklichen. Auch Aaron Antonovsky betonte die wichtige Rolle des Erlebens von Sinnhaftigkeit für die seelische Gesundheit. Die Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit („meaningfulness“) des eigenen Lebens ist für Antonovsky die wichtigste Komponente eines guten Kohärenzgefühls, das für ihn darüber hinaus in einem soliden Vertrauen auf die Vorhersehbarkeit und Erklärbarkeit („comprehensibility“) sowie Bewältigbarkeit („manageability“) der Anforderungen des Lebens besteht. Dank unserer Willensfreiheit, verbunden mit unserem Gewissen, unserem Werte- und Schuldbewusstsein sowie unserem Willen zum Sinn, sind wir in der Lage, volle Verantwortung für uns selbst und für die Gemeinschaften, denen wir angehören, zu tragen.

Bewusstsein und Tod

Die menschentypische, über die biologischen Überlebensreflexe hinausgehende Angst vor dem Tod beruht zu einem großen Teil auf der äußerst intensiven Enkulturierung des individuellen Selbst, verbunden mit dem antrainierten subjektiven phänomenalen Erleben sowie der hochgradigen Identifikation dieses Selbst mit seiner eigenen Biografie, seinen sozialen Rollen und Bindungen, Aufgaben, Bedeutungen und Besitzständen. Der Verlust des Selbst ist vor diesem Hintergrund eine unerträgliche Perspektive. Wir sind mit unserem phänomenalen Selbst- und Welterleben, in dem wir selbst ganz selbstverständlich den räumlichen Mittelpunkt und Ausgangspunkt autonomer Willensakte bilden, in einer sozioökonomisch höchst nützlichen Benutzerillusion gefangen. Diese Benutzerillusion erschwert den Abschied aus den vielfältigen Bindungen an Mitmenschen, Rollen, Aufgaben, Bedeutungen oder an materielle Besitztümer.
Bewusstsein und Tod

Seit Jahrtausenden beziehen sich Menschen auf eine sinnlich nicht wahrnehmbare Wirklichkeit. Vieles spricht dafür, dass über alle kulturellen Unterschiede hinweg im Menschen ein Grundgefühl verwurzelt ist, dass die sichtbare, phänomenale Wirklichkeit nicht die einzige und die letztlich wesentliche ist; mit diesem Grundgefühl ist die Sehnsucht nach einer höheren Macht verbunden, zu welcher der Mensch in Kontakt treten kann und die sein Schicksal beeinflusst. In den Religionen geht es in der Regel darum, die Bedeutung der eigenen Individualität zu relativieren und die Ansprüche des eigenen Selbst einem höheren Willen oder Prinzip unterzuordnen. In allen Weltreligionen spielt auch der hingebungsvolle Dienst an anderen Menschen, insbesondere an den Armen und Hilfsbedürftigen, eine große Rolle.

Die Relativierung des eigenen Selbst und eine altruistische, prosoziale Lebensführung wird auch von nicht religiös motivierten Philosophien und Therapierichtungen angestrebt. Das Aufgehen in einer subjektiv als wichtig und sinnvoll erlebten Aufgabe scheint generell ein hohes Maß an jenen heilsamen Erfahrungen zu ermöglichen, für die Mihály Csíkszentmihályi das Wort „Flow“ einführte. Viktor Frankl sprach von Selbsttranszendenz, wenn es einem Menschen gelingt, ganz aufzugehen in einer als zutiefst sinnvoll erlebten Sache oder/und in der Hingabe an eine andere Person. Ganz selbst wird der Mensch nach Frankl da, wo er sich selbst übersieht und vergisst, wo er also seine Selbstbezogenheit und Egozentrik überwindet. Frankl sah es als eine wesentliche Aufgabe der Logotherapie an, Patienten ihre unbewusste Religiosität und verdrängte Gottbezogenheit bewusst zu machen und ihr Vertrauen in den Übersinn zu stärken.

Menschen, die sich in einer stabilen und positiven Beziehung zu Gott erleben, verfügen über eine zusätzliche Qualität von Bindung, die für sie in belastenden Lebensphasen, hilfreich sein kann. Religionen sind vor allem ein kollektives Phänomen. Sie liefern eine gemeinsame Matrix, in der die Gläubigen mit ihren wichtigsten Lebensanliegen zueinander und – allein oder gemeinsam – zu Gott in Beziehung treten können. Eine Religion bindet die vielen voneinander getrennten individuellen Wirklichkeiten zusammen zu einer einzigen, einheitlichen, für alle verbindlichen und damit alle verbindenden Wirklichkeit. Die Gläubigen fügen sich in die gemeinsame Matrix ein und erwerben damit das Anrecht auf Teilhabe an der Glaubensgemeinschaft sowie auf Schutz und Unterstützung durch diese Gemeinschaft. Mit Hilfe ihrer Botschaften, Riten und Kulte richten Religionen systematisch einen wesentlichen Teil der Aufmerksamkeit, des Denkens und der Affektivität ihrer Mitglieder auf einen gemeinsamen Bezugspunkt  a u ß e r h a l b  der Gemeinschaft aus, im Falle der abrahamitischen Religionen auf Gott. Der Glaube an Gott verspricht Juden, Christen und Moslems gleichermaßen – selbst über die Grenze des Todes hinweg – absolute Bindungssicherheit und Geborgenheit. Allein schon das Versprechen absoluter Bindungssicherheit hat tröstliche und entängstigende Wirkungen.

Die Gottesvorstellung impliziert, dass wir als Menschen wesentliche Dinge nicht wahrnehmen, nicht erkennen und nicht begreifen können, sosehr wir auch unser Wissen und unsere kognitiven Fähigkeiten individuell und kollektiv ausdehnen. Damit stellen Religionen den naiven Realismus und die Selbstverständlichkeit der uns antrainierten Wirklichkeitsillusionen in einer für jedermann begreifbaren Weise in Frage. Die durch die Religionen vermittelte Metaebene befähigt nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Kollektive, zum Beispiel Familien, soziale Schichten, Völker oder die ganze Menschheit, gemeinsam die Perspektive zu wechseln und alternative Standpunkte einzunehmen. Die verschiedenen Religionen stellen in ihren Texten und mit ihren Riten wirksame Metaphern und Instrumente zur Verfügung, mit deren Hilfe die Gläubigen über alle sozialen und intellektuellen Unterschiede hinweg die Bedeutung der phänomenalen Welt und des eigenen phänomenalen Selbst relativieren können. Ein Maß an Naivität und Kindlichkeit im Glauben ist aus christlicher Sicht unverzichtbar, um Erfahrungen jenseits der vertrauten, enkulturierten Kategorien und des sinnlich sowie verstandesmäßig Fassbaren machen zu können: beglückende Erfahrungen von Ganz-im-Hier-und-Jetzt-Sein, von Freiheit von enkulturierten Zweifeln, von Freiheit von Inkonsistenzspannungen und von Selbstvergessenheit.

Praktische Bedeutung der höheren Ich-Leistungen in der Psychotherapie


Von der Qualität höheren Ich-Leistungen hängt ab, wie gut es uns gelingt, unser interaktives Verhalten auch unter den verschiedensten Anforderungen nicht alltäglicher sozialer Kontexte zu regulieren und wie gut wir unser Selbsterleben auch dann noch regulieren können, wenn es innerhalb von wichtigen Bindungen zu Konflikten kommt. Wenn wir wichtige Bindungen verloren haben oder ein solcher Verlust droht. Wenn wir mit unseren Grenzen konfrontiert werden, vor allem mit den Grenzen unserer körperlichen und geistigen Gesundheit und Leistungsfähigkeit, mit den Grenzen unserer Bedürfnisbefriedigung sowie mit der Begrenzheit unserer physischen Lebenszeit.

In der Psychotherapie scheint mir die Fähigkeit zum virtuellen Standortwechsel (uns selbst, andere Menschen und die Welt aus theoretisch beliebig vielen vorgestellten Perspektiven – Metaebenen – betrachten und entsprechend viele alternative Wirklichkeitsmodelle entwerfen und auch wieder verwerfen zu können) grundlegend. Wir können die jeweilige individuelle Perspektive verschiedener Mitmenschen einnehmen. Wir können gemeinsam mit anderen eine überindividuelle, kollektive Sichtweise einnehmen. Wir können, insbesondere wenn wir uns einer monotheistischen Religion zugehörig fühlen, alleine oder mit anderen Gläubigen zusammen Hypothesen darüber bilden, wie eine übernatürliche Instanz, zum Beispiel Gott, die Dinge sehen könnte.

Alle diese Erweiterungen unserer egozentrischen Perspektive sowie die daraus resultierenden alternativen Wirklichkeitsmodelle und Verhaltensoptionen verbessern unsere Chance, verbessern auch die Chance der Gemeinschaft, der wir angehören, geeignete Lösungen für bestimmte Problemstellungen zu finden: Wir können uns in andere Menschen einfühlen, ihr Verhalten verstehen und voraussehen. Wir können uns gemeinschaftliche Werte zueigen machen, Gewissen, Verantwortungsgefühl und Sinnerleben entwickeln. Aus der Metaposition heraus sind wir in der Lage, das äußerst eingeengte Gesichtsfeld unseres Bewusstseins zu erahnen und die Angemessenheit unserer Wahrnehmungen, Interpretationen, Annahmen, Überzeugungen, Wertmaßstäbe und Wirklichkeitsmodelle anzuzweifeln. Der virtuelle Perspektivenwechsel befähigt uns, die Zuverlässigkeit und die Grenzen unserer eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu hinterfragen, die Funktionalität und Angemessenheit unserer erlernten Automatismen, Gewohnheiten und Routinen zu überprüfen, uns willentlich neuen Lernprozessen zu unterwerfen und neue Verhaltensweisen zu erproben.

Ein generelles Problem bei Patienten mit neurotischen Störungen sind ihre pathologischen Metakognitionen: Viele von ihnen grübeln, zweifeln, mutmaßen, klagen sich selbst oder andere an, ohne dass ihre exzessive Reflexion zu befriedigenden Lösungen führt. Es fehlt in ihrem Denken der entscheidende Standortwechsel, das Verlassen ihrer egozentrischen Benutzerillusion und das Einnehmen einer echten Metaposition. Als psychodynamisch orientierter Psychotherapeut lade ich meine Patienten dazu ein, ihre gewohnte egozentrische Benutzerillusion mit meiner Hilfe zu verlassen und sich selbst sowie ihre Schwierigkeiten im Leben von verschiedenen virtuellen Metapositionen aus zu betrachten. Wir nehmen gemeinsam eine externe Perspektive ein und betrachten unsere Interaktion aus einigem Abstand. Der Patient kann von diesem neuen Blickwinkel aus neue Einsichten darüber gewinnen, welche unbewussten Interaktionsmuster nicht nur in der Therapiebeziehung mit mir, sondern auch in anderen wichtigen Beziehungen des Patienten immer wieder ablaufen und ihm möglicherweise schaden. 


Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Günter Gödde und Gerhard Scheidhauer, die beide mein Manuskript gründlich durchgearbeitet und mich bei meiner Arbeit sehr ermutigt haben. Günter Gödde ist ein großer Kenner des Unbewussten, Autor und Herausgeber grundlegender Bücher zu dieser Thematik. Sein fachkundiges und in einigen wichtigen Punkten auch kritisches Feedback hat zur thematischen und didaktischen Stringenz des Buches beigetragen. Dem Theologen Gerhard Scheidhauer verdanke ich wertvolle geistes- und religionsgeschichtliche Ergänzungen.
Udo Boessmann, Wiesbaden im April 2013


Bewusstsein bewusst unbewusst